Zeitschrift Aufsätze

Karl Kroeschell

Der Amtmann Zur Kulturgeschichte eines Juristenberufs

Für Clausdieter Schott zum 1. November 2001

I. Einleitung

1Im Jahre 1834 erschien in Kassel ein kleines Buch mit dem seltsamen Titel "Prinz Rosa-Stramin"1. Sein Verfasser, der sich Eduard Helmer nannte, war der junge kurhessische Jurist Ernst Koch, der kurz darauf aus persönlichen und politischen Gründen seine Heimat verlassen mußte und nach Jahren in der französischen Fremdenlegion endlich eine Anstellung als Professor der deutschen Sprache in Luxemburg fand2. Mit dem Titel seines Büchleins spielte er auf den morgenländischen Prinzen an, den ihm seine Braut Henriette von Bosse in rosafarbenen Stramin auf den Deckel des Notizbuchs gestickt hatte, das seine kleinen Texte zuerst aufnahm. In der äußeren Form eines Tagebuchs wechseln hier ("jeanpaulisierend", wie man gesagt hat) Erinnerungen und Gedichte, Schwänke, Satiren und ernste Betrachtungen.

2Hier interessieren Kochs Kindheitserinnerungen an "Lenzbach", hinter welchem Namen sich das hessische Witzenhausen an der Werra verbirgt - als Heimatstadt des Germanisten Edward Schröder den einen, des Rechtshistorikers Karl August Eckhardt den anderen bekannt. Der Erzähler erinnert sich des sonntäglichen Kirchgangs, da er läutend am Glockenseil hing oder auf der Orgelempore die Bälge trat, und sinniert darüber, wer zur Kirche kommt, und wer nicht3:

3Der Amtmann kommt nicht. Ohnehin macht er als Honoratior von Lenzbach nur an hohen Festtagen dem lieben Gott einen Anstandsbesuch in Stiefeln und Sporen, und mit einem Tressenhut. Jetzt sitzt er zu Hause im Schlafrock und hat ein Untersuchungsprotokoll vor, betreffend den Diebstahl eines Laibes Brot. Wer dem lieben Gott Sonntage stiehlt, geht frei aus. Pfui, wem das Sonntagsgeläute nichts ist als ein Ohrenkitzel, bei welchem sich’s am besten arbeiten läßt. Pfui, wenn, während Gott mit tausend Glockenstimmen seine Gläubigen auf der Erde zusammenruft, daheim am Aktentische ein Ding sitzt das aussieht wie ein Rückstand, oder wie ein Submissionstermin, oder wie eine Rubrik in Sachen des gegen den puncto debiti d.h. wegen einer Schuld, einer großen Schuld, die es sich selbst und der Menschheit zurückbezahlen soll, - ein Geschäft, das sich mit Appellations-, Extrajudizial- und Hämorrhoidalbeschwerden herumplagt, und dem der Geschäftsstil lieber ist als der deutsche Stil, das die Freundschaft nur kennt aus dem litisconsortium, und die Liebe aus den Fornikations- und Divortiensachen, und die Natur aus den gerichtlichen Augenscheinen und Steuerbuchsextrakten, und den lieben Gott aus den juramentumjudiciale, - wenn so ein Ding, sage ich, daheim sitzt und sagt: Ich habe keine Zeit in die Kirche zu gehen.

4Auf die Frage, wer der hier geschilderte Amtmann war, wird noch zurückzukommen sein4. Jedenfalls wird er uns als ein Richter der unteren Instanz vorgestellt, der es mit Zivilsachen verschiedenster Art zu tun hat, bei denen gegen seine Entscheidung an eine höhere Instanz appelliert werden kann, aber auch mit der Voruntersuchung von Strafsachen sowie (vielleicht gar im Wege der Amtshilfe) mit der Vernehmung und Vereidigung von Zeugen und mit gerichtlichen Augenscheinseinnahmen.

II. Ämter und Patrimonialgerichte

5Dieser Aufgabenkreis kennzeichnet den Amtmann als einen Richter des "Eingangsgerichts", das bei uns noch heute Amtsgericht heißt. Es liegt an dem späten Datum 1834, daß Ernst Koch seinem Amtmann nur noch richterliche und keine sonstigen Aufgaben zuschreibt. Ursprünglich war sein Pflichtenkreis viel weiter und umfaßte alle Angelegenheiten des Amtes, das wir als untersten Gerichts- und Verwaltungsbezirk seit dem späten Mittelalter in fast allen deutschen Territorien finden können5. Ein besonders frühes Beispiel bietet die Bestallungsurkunde für den mainzischen Amtmann auf der Burg Rusteberg im Eichsfeld von 1252, die noch gelegentlich zu nennen sein wird6.

6 Den Mittelpunkt des Amtes bildete eine landesfürstliche Burg, auf der der Amtmann seinen Sitz hatte. Der zugehörige Amtsbezirk umfaßte bisweilen nur zwei oder drei Dörfer, oft aber auch ein Dutzend oder mehr - Marktflecken und kleine Städte mit eingeschlossen. Gegenüber benachbarten Ämtern, aber auch gegenüber den Gerichtsbezirken größerer Städte sowie der adligen und geistlichen Herrschaften im Lande, bedurfte er eindeutiger Grenzen. Wie unsere Geschichtsatlanten zeigen, war das fast lückenlose Netz aus Ämtern und anderen Gerichtsbezirken etwa im 16. Jh. weitgehend fertig7.

7 Innerhalb des Amtsbezirks hatte der Amtmann sämtliche Herrschaftsrechte seines fürstlichen Herrn wahrzunehmen8. Er erhob die Nutzungsabgaben der bäuerlichen Hintersassen und trieb auch die Steuern und Zehnten ein. Er bot alle wehrfähigen Männer zur Landfolge auf, wenn ein bewaffneter Einfall drohte oder eine räuberische Burg zu brechen war. Da er den Fürsten auch als Gerichtsherrn vertrat, war er auch bei den Gerichtssitzungen in seinem Amtsbezirk anwesend oder übernahm sogar selbst den Vorsitz. Modern gesprochen, waren also Gerichtsbarkeit und Verwaltung in der Hand des Amtmanns vereinigt, und dies blieb so bis ins 19. Jh.

8 Die Amtmänner konnten unterschiedliche Titel führen. Der mainzische Amtmann auf dem Rusteberg, dem das ganze Eichsfeld anvertraut war, hieß als Vertreter seines fernen Herrn geradezu vicedominus9. Als dieser Titel zum Familiennamen "Vitzthum" geworden war, hießen spätere Inhaber des Amtes "Oberamtmann", denn inzwischen waren auf unterer Ebene kleinere Ämter gebildet worden10. Lag der Burgsitz des Amtmanns, was häufig der Fall war, in oder bei einer Stadt, so konnten Amtmann und Stadtrichter gleichsam eine Doppelspitze bilden. So zeigen uns die Amtsrechnungen des niederhessischen Homberg von 1376 den adligen Vogt, der nach seiner Ernennung mit 41 Pferden einreitet, um sein Amt in Besitz zu nehmen und einen unruhigen Adligen der Nachbarschaft in Schach zu halten, dessen beschworener Friede demnächst ablief11. Neben ihm steht der bürgerliche Schultheiß, der das ungebotene Ding abhält und über Einnahmen und Ausgaben des Amtes sorgfältig Buch führt. Vogt und Schultheiß - beides sind traditionelle Richtertitel, die sowohl auf dem Lande als auch in den Städten noch lange üblich blieben. Doch kommt auch der Titel "Landvogt" vor; man denke an Gottfried Kellers "Landvogt von Greifensee", den Patrizier und Offizier Salomon Landolt, der sein Amt im Landgebiet von Zürich recht autokratisch verwaltete12. Landvogt war aber auch der einstige Göttinger Hainbündler Heinrich Christian Boie, und zwar zu Meldorf in Süderdithmarschen, der durch diese Ernennung im Jahre 1781 seinen Freunden Johann Heinrich Voß, Matthias Claudius und den Grafen Friedrich und Christian Stolberg, auch räumlich näher kam13.

9 Der häufigste und zugleich bezeichnendste Titel war jedoch der des Amtmanns14 (mit Varianten wie dem erwähnten Oberamtmann, dem Bezirksamtmann, dem Amtshauptmann und anderen mehr). Nicht als Lehen hatte nämlich der Amtmann Burg und Gerichte, Zwangsgewalt und Abgabenhoheit inne, sondern eben als Amt15. Er war nur widerruflich damit betraut, das Amt und seine Dörfer "zu handhaben, zu schützen und zu schirmen"16. Das bedeutete vor allem, daß er abgesetzt werden konnte und daß seine Stellung nicht vererblich war. Wenn er seine Funktionen ausübte, nahm er nicht wie ein Lehnsmann eigene Rechte wahr, sondern die seines fürstlichen Herrn. Selbst wenn ihm das Amt, was nicht selten geschah, pfandweise übertragen wurde, blieb es doch ein Amt. So wurde der Amtmann, der in höherem Auftrag tätig wurde und über sein Wirken Rechenschaft schuldete, zum maßgeblichen Vorbild modernen Beamtentums. Mehr noch: vor allem in der protestantischen Fürstenethik wurde der getreue Amtmann zum Vorbild des Regenten selbst! "Euch ist die Obrigkeit gegeben vom Herrn und die Gewalt vom Höchsten, welcher wird fragen, wie ihr handelt, und forschen, was ihr ordnet. Denn ihr seid seines Reichs Amtleute" - so redet die Heilige Schrift (Weisheit Salomos 6,5) in den Worten der Lutherschen Übersetzung die Fürsten an, und es gab manchen Landesherrn, der seine fürstliche Würde im Sinne dieser Schriftstelle als ein Amt verstand, das ihm von Gott verliehen war17.

10 Soviel zunächst zu den Ämtern und Amtmännern. Nun war schon davon die Rede, daß die landesherrlichen Ämter im Gemenge lagen mit den adligen oder geistlichen Herrschaften im Lande. Auch diese bedürfen daher einer kurzen Betrachtung, weil sie die Verhältnisse in den Ämtern des Landesherrn gewissermaßen widerspiegeln. Die adligen Patrimonialgerichte18 - so genannt, weil die Gerichtsbarkeit gleichsam zum Vermögen des adligen Gutsbesitzers gehörte - verfügten zwar oftmals nicht über sämtliche gerichtlichen und hoheitlichen Kompetenzen und waren dann partiell dem benachbarten Amt untergeordnet. Dennoch hatten sie oft einen stattlichen Umfang, wie das Beispiel des adligen Gerichts Hardenberg bei Göttingen zeigen mag. Es stammt aus der spitzen Feder des Ritters Karl Heinrich von Lang, der nach der preußischen Besitzergreifung der fränkischen Markgraftümer Ansbach und Bayreuth dort Mitarbeiter des Ministers und späteren preußischen Staatskanzlers Hardenberg gewesen war, der ihn 1793/94 vorübergehend als Archivar seines Familienbesitzes beschäftigt hatte19.

11Das Schloß Hardenberg, das Vorderhaus Hardenberg genannt, ... liegt etwa 500 Schritte rechts an der Straße von Göttingen nach Northeim abwärts und ist im neuen Stil erbaut, vorwärts die weitläufigen Wirtschaftsgebäude, rückwärts ein kleiner Park, ... etwas weniges weiter zurück und scheinbar noch in demselben Garten liegend erheben sich die schönen Ruinen der alten Burg Hardenberg... Am Fuße dieses Berges dehnen sich die Wirtschaftsgebäude der anderen Linie der Hardenberge, des Hinterhauses aus, dessen damaliges Haupt, der alte Graf Hans genannt, eine kleine Stunde weiter in dem gepachteten Kloster Marienstein residierte. Nächst an das Schloß Hardenberg schließt sich der Ort Nörten an, durch welchen die Landstraße läuft, ein großer, meist katholischer Flecken, gleichsam eine kleine Insel unter lauter Protestanten [in der Tat eine kurmainzische Enklave], mit einem katholischen Stift, den zwei hardenbergischenAmtleuten, einer Apotheke wo man sich in Gesellschaft zu einem Glas Wein versammelte, einem Ratskeller, einem Gerichtsarzt und einem Einnehmer. Am Ende des Städtleins lag noch der von der Göttinger Welt besuchte Hardenberger Krug.
12Die Herrschaft oder nach dortiger Sprache das Gericht Hardenberg besaß wohl an die 14 im Umkreis ziemlich zusammenhängende Dörfer und Weiler mit vielleicht 3000 Morgen Waldungen, große eigene Schloßökonomie auf dem Vorderhaus von 1200 Morgen und 3000 Stück veredelten Schafen, noch zwei andere Nebendomänen zu Levershausen und Lindau, zunächst bei Göttingen das Pfarrdorf Geismar und dann noch weit umher eine Menge einzelner Lehen. Jede der beiden Linien hatte ihren eigenen Amtmann, und die Einkünfte von dem Anteil des Ministers mochten sich wohl immer nach unserem Gelde auf 24000 - 30000 Gulden belaufen mit Inbegriff der Schloßgüter, die an einen Ökonomen, der den Titel Oberverwalter führte, verpachtet waren, der wieder Unterverwalter, Registerschreiber und Ackervögte unter sich hatte und auch einen großen Teil der herrschaftlichen Gründe den Bürgern von Nörten zum Tabak- und Kartoffelbau in Afterpacht überließ. Die Rindviehzucht, gegen die unsere in Franken gehalten, war schlecht. Das Brennholz wurde auf Eseln aus dem Walde herbeigeholt, und zwar im Vorderhaus aus dem Gemeindewald unentgeltlich so viel, als neun Esel zweimal des Tages herbeischaffen konnten. Im eigentlichen Schlosse wohnten außer mir nur noch der reitende Förster mit seiner Frau und unten ein Pförtner und Nachtwächter, der zugleich am Tage mein Kammerdiener war. Unter meinem Zimmer war die protestantische Schloßkapelle, worin für das meist evangelische Hofpersonal und die protestantischen Einwohner von Nörten der Gottesdienst von dem protestantischen Patronatpfarrer zu Großenrode und Bühle gehalten wurde. Außerdem gab es noch hardenbergische Patronatspfarreien zu Hillerse, Sudershausen, Bishausen, Edesheim, Geismar und zu Lindau eine katholische. Von meinen Fenstern aus hatte ich rechts vor mir die Wohnung des Herrn Oberverwalters, das Gewimmel der Dienstleute, die im Hofe unter freiem Himmel rottenweise abgespeist wurden, das Blöken der Schäflein, die lustige Eselin in ihren Mußestunden. Rechts mir gegenüber hatte ich den Herrn Hofgärtner mit seinen Jungfern Töchtern und dem weißen Hündlein, bestimmt meines Morgenschlafs nicht schonend Kirschen und Weichsel bellend gegen die Spatzen zu verteidigen.

13 Dieser Text wurde so ausführlich zitiert, weil er die ganze Lebenswelt einer solchen adligen Herrschaft und damit auch ihrer Amtleute vor uns erstehen läßt. Aus ihm ergibt sich zugleich, daß auch hier die Unterrichter den Titel Amtmann führten, obwohl der amtliche Sprachgebrauch sonst zwischen den Amtmännern des Fürsten und den adligen Gerichtsverwaltern, Gerichtshaltern oder Justitiaren unterschied20.

14 Was endlich die Amtmänner der im Lande belegenen Stifte und Klöster angeht, so sind keine Besonderheiten zu berichten. Es sei nur angemerkt, daß in protestantischen Territorien wie Württemberg, Hessen oder Braunschweig-Lüneburg die Klosterherrschaften säkularisiert worden waren, so daß der Klosteramtmann nunmehr vom Landesfürsten ernannt wurde. In den welfischen Landen hatte sich oftmals noch ein Konvent evangelischer Stiftsdamen erhalten, den es zu versorgen galt21. Sonst aber bildeten die allmählich verfallenden Kirchen- und Klosterbauten nur noch den romantischen Hintergrund für einen Amtshof, der sich von anderen seinesgleichen nicht unterschied22.

III. Die Aufgaben des Amtmanns

15 Die Frage nach den Aufgaben des Amtmanns und ihren Wandlungen im Laufe der Zeit ist für den Rechtshistoriker von besonderem Interesse. Sie kann hier freilich nicht umfassend dargestellt, sondern nur in ihren wichtigsten Aspekten angedeutet werden. Als Grundlage kann dabei die sog. Amtmannsliteratur dienen - eine lange unterschätzte Literaturgattung des 18. und frühen 19. Jh.23.

16 Es handelt sich dabei einerseits um Schriften von Amtmännern selbst, etwa die "Briefe eines Beamten über das Justizwesen auf dem Lande", die der kurhannoversche Amtmann zu Oldershausen Johann August Weppen im Jahre 1800 veröffentlichte24. Das beste Werk dieser Gattung ist die dreibändige "Anweisung für angehende Justizbeamte und Unterrichter" (1772) des braunschweigischen Klosteramtmanns Johann Christian Fredersdorff zu Walkenried, die zugleich eine Fülle von authentischen Aktenbeispielen bietet. Andererseits gibt es aber auch Bücher von Professoren, die damit den künftigen beruflichen Bedürfnissen ihrer Studenten zu entsprechen suchten. Ein eher abschreckendes Exempel ist das Buch des Marburger Professors Johann Georg Estor, "Anweisung für die Beambten und adelichen Gerichts-Verwalter in den gerichtlichen und außergerichtlichen Rechtshändeln, auch zu den summarischen Processen" (Marburg 1762)25. Auch der Göttinger Prozessualist Justus Claproth lehrte und schrieb aber nicht zuletzt für die künftigen Amtmänner und Gerichtsverwalter. Seinen Schriften verdanken wir deshalb gleichfalls viele anschauliche Beispiele aus der Praxis der Zeit26.

17 Betrachten wir nun kurz die wichtigsten Aufgabenfelder des Amtmanns, so ist zunächst festzuhalten, daß seine "militärische" Funktion immer stärker zurücktrat27. Für den Amtmann auf dem Rusteberg war es 1252 ebenso selbstverständlich wie noch 1346 für den hessischen Vogt zu Homberg, daß er nicht nur seine Burg instandhielt und verteidigte, sondern auch über die bewaffnete Macht verfügte, die den Landfrieden garantierte28. Im Zeitalter gemieteter Landsknechtsscharen oder gar moderner stehender Heere war hierfür kein Raum mehr. Für den Adel waren die Ämter seither eher unattraktiv. Wer sich standesgemäß kriegerisch bewähren wollte, wurde nicht mehr Amtmann auf dem Rusteberg, sondern bewarb sich (notfalls gar bei einem fremden Fürsten) um eine Offiziersstelle.

18 Einschneidende Veränderungen gab es aber auch bei den gerichtlichen Aufgaben des Amtmanns29. Früh hatte er die Aufsicht über die Gerichte in seinem Bezirk übernommen - nicht nur über die Blutgerichte, deren Besitz vielfach als untrügliches Zeichen der Landeshoheit galt, sondern auch über die mannigfaltigen Bauerschafts-, Dorf-, Fronhofs-, Mark- oder Holzgerichte, in denen die verschiedenen bäuerlichen Rechtsangelegenheiten verhandelt wurden. Hier nahm der Amtmann neben dem bäuerlichen Richter Platz oder verdrängte ihn gar aus dem Gerichtsvorsitz30. Mit seinem Amtsschreiber sorgte er bisweilen dafür, daß Rechtssprüche von grundsätzlicher Bedeutung aufgezeichnet wurden. Sonst aber boten diese Gerichte auf lindenbestandener Dingstätte mit der umständlichen Wechselrede von Frage und Antwort und mit der Rollenverteilung zwischen Richter, Dingleuten und Fürsprechern noch lange Zeit das gewohnte Bild31.

19 Dies änderte sich mit dem Vordringen des gelehrten Rechts, insbesondere des schriftlichen, sog. römisch-kanonischen Prozesses. Seit 1495 gab es das Reichskammergericht, das nach diesem Prozeßrecht verfuhr und dessen Entscheidung man mit dem Rechtsmittel der Appellation auch aus den Territorien und Reichsstädten anrufen konnte. Damit sich das Kammergericht jedoch mit einer Appellation befassen konnte, bedurfte es, was jedem Juristen einsichtig ist, einer Appellationsschrift, welche die Rüge des angegriffenen Instanzurteils in juristisch nachprüfbarer Weise begründete. Das heißt: auch die Obergerichte der Territorien mußten mit studierten Juristen besetzt sein, die nach den Regeln des gelehrten Prozesses verfuhren und das gemeine römische Recht anwenden konnten. Ein gleiches galt allerdings auch für das Verhältnis zwischen Ober- und Untergerichten. Sollte der Landbevölkerung die Möglichkeit der Appellation nicht abgeschnitten sein, so mußte auch der Amtmann nach dem gelehrten Prozeßrecht verfahren; auch er mußte also studierter Jurist sein32.

20 Für sein fiktives Amtsstädtchen Heustedt an der Weser (gemeint ist Hoya) hat der hannoversche Jurist Heinrich Albert Oppermann in seinem großen Historienroman "Hundert Jahre" den Zustand am Ende des 18. Jh. folgendermaßen skizziert:

21Seit fünfzig Jahren etwa hatte die Rechtsprechung des Volks in Vor- und Gohgerichten aufgehört, gelehrte Richter sprachen jetzt sein Recht, Hofgerichte und Justizkanzleien entschieden in höherer Instanz, und im Oberappellationsgericht in Celle war das erste Zeichen der über die sieben oder acht Fürstentümer, Herzogtümer, Grafentümer hereinziehenden Einheit.
22Vom alten Schlosse herab wurde jetzt durch einen Amtshauptmann, einen ordentlichen Amtsschreiber, einen Kornschreiber, einen Supernumeraramtsschreiber und einen Auditor regiert; gutsherrliche, gerichtsherrliche, oberlandespolizeimäßige Ge- und Verbote erlassen, dekretiert und sportuliert, und daneben Recht gesprochen33.

23 Für das Hochstift Paderborn ist in einer Reichskammergerichtsakte eine Bilddarstellung dieser Gerichtsverfassung überliefert34. Oben sieht man die konkurrierenden höchsten Reichsgerichte, das Reichskammergericht (links) und den Reichshofrat (rechts); darunter in der Mitte das weltliche Hofgericht als höchstes Gericht des Hochstifts und unten drei Untergerichte, welche die landesfürstlichen Ämter, die adligen und geistlichen Herrschaften sowie die Städte darstellen. Diese Gerichte sind jeweils mit drei Personen besetzt (dem Richter, einem Beisitzer und dem Schreiber), die durch ihre Amtstracht samt Allongeperücken gleichermaßen als studierte Juristen gekennzeichnet sind.

24 Es kann hier nicht näher auf die einzelnen richterlichen Wirkungsfelder des Amtmanns eingegangen werden: die Ziviljustiz, bei der man sich meist des summarischen Verfahrens bediente35; die freiwillige Gerichtsbarkeit, wo es bei der Errichtung von Testamenten, Eheberedungen oder Auszugsverträgen in besonderem Maße auf den örtlichen Rechtsbrauch ankam36; schließlich die Strafgerichtsbarkeit, die der Amtmann hauptsächlich bei geringeren Delikten ausübte, während er bei schweren Freveln auf die Voruntersuchung beschränkt war, um dann die Akten an ein Obergericht weiterzugeben37. Für alles dies bietet die Amtmannsliteratur zahlreiche farbige Beispiele, von denen hier nur eines erwähnt sei, das in neuerer Zeit literarisch Karriere gemacht hat: Gottfried August Bürgers Verhör einer Kindsmörderin von 1781, das Peter Glotz und Wolfgang Langenbucher 1965 in ihr Lesebuch "Versäumte Lektionen" aufgenommen haben38 und das seitdem wieder und wieder abgedruckt wird. Bürger war seit 1772 Amtmann des adligen Gerichts Altengleichen bei Göttingen, mußte diese Stelle aber 1784 wegen seiner zerrütteten persönlichen Verhältnisse aufgeben. Sein Verhör zeigt das Bestreben, die Notlage der erst zwanzigjährigen Täterin aktenkundig zu machen; bekanntlich war die Kindestötung eines der rechtspolitischen Hauptthemen der Aufklärungszeit39.

25 Wenigstens kurz muß das vielseitigste Tätigkeitsfeld des Amtmanns erwähnt werden: seine Verwaltungstätigkeit oder, um es mit den Worten der Zeit zu sagen, seine Sorge für die "gute Policey"40. Dieses Thema würde eine eigene Abhandlung verdienen, so mannigfaltig sind die hier zu nennenden Aktivitäten. Der Amtmann hatte für den Wegebau ebenso zu sorgen wie für die Reinhaltung der Brunnen. Er hatte eine tüchtige Hebamme anzustellen, aber auch einen Tierarzt, der ihm bei der Bekämpfung von Viehseuchen half41. Das Duzen der Eltern durch ihre Kinder42 mußte er ebenso mit Buße belegen wie das allzu wüste Tanzen bei der Dorfkirmes43. Auch polizeiliche Aktivitäten im modernen Sinne fehlten freilich nicht. Der württembergische Amtmann Schäffer in Sulz am Neckar wie der badische Amtmann Roth in Emmendingen machten sich durch die Aufstellung von Gaunerlisten um die Bekämpfung der Bandenkriminalität verdient. Hunderte von Bandenmitgliedern waren hier mit ihren Decknamen und ihren Personenbeschreibungen verzeichnet44.

26 Endlich darf aber auch eine geradezu typische Aufgabe des Amtmanns nicht vergessen werden: die Bewirtschaftung seines Amtshofes mit Ackerbau und Viehhaltung, natürlich mit Hilfe eines zahlreichen Gesindes. Das Hardenberger Beispiel hat gezeigt, daß die Ökonomie von der Verwaltung des Amtes getrennt sein konnte, doch war dies im 18. Jh. wohl noch die Ausnahme45. Gerade seine Landwirtschaft konnte für den Amtmann recht einträglich sein. Für das kurhannoversche Amt Lauenstein-Eggersen hat man errechnet, daß die bei Amtsantritt vorzuschießende erste Jahrespachtsumme mehr als 2400 Reichstaler betrug. Die Einnahmen aber beliefen sich auf das Doppelte und konnten gar bis zu 8000 Reichstaler ausmachen46. Gerade seine landwirtschaftliche Tätigkeit hat das Bild des Amtmanns so sehr geprägt, daß nach all den Gerichts- und Verwaltungsreformen des 19. Jh. der Titel Amtmann für die Domänenpächter noch bis ins 20. Jh. gebräuchlich blieb.

IV. Studium und Laufbahn

27 Die Frage liegt nahe, wie man denn alle die Kenntnisse erwerben konnte, die man auf einem so vielseitigen Tätigkeitsfeld benötigte. Manches mag durch praktische Anschauung oder durch eine "Lehrzeit" als Amtsschreiber oder Volontär gewonnen worden sein. Auch das akademische Studium bot aber eine breitere Unterweisung als wir heute erwarten würden.

28 Da der Amtmann in erster Linie Richter war, mußte er ein juristisches Studium absolviert haben. Dabei ist aber festzuhalten, daß noch im 18. Jh. die Disziplinen der "praktischen Jurisprudenz" in den Studienplänen breiten Raum einnahmen: die Kautelarjurisprudenz, die Referier- und Dekretierkunst, die Staats- und Kanzleipraxis samt Archiv- und Registraturwissenschaft sowie endlich die Verteidigungskunst. Jan Schröder hat schon vor mehr als zwanzig Jahren in einer großen Monographie gezeigt, wie diese Gegenstände erst um 1800 durch eine neues Verständnis von Rechtswissenschaft aus dem akademischen Unterricht verdrängt worden sind47.

29 Jedenfalls die modernste der juristischen Ausbildungsstätten des 18. Jh., die Göttinger Juristenfakultät, bot aber noch mehr. Es gibt dafür ein farbiges Zeugnis in Gestalt des "Sendschreibens über die Anfrage, in was für einem Zustand sich die Rechtsgelehrsamkeit auf der blühenden Georg-Augusta befinde. Nebst einer Belehrung über die Wahl der Collegien und der dahingehörenden Schriften"48. Verfasser des 1775 erschienenen Büchleins war Friedrich Philipp Carl Boell, Professor der Geschichte, Statistik und Wappenkunst an der protestantischen Kriegsschule in Colmar, selbst ein früherer Göttinger Student. In Gestalt zweier Briefe an den Vater eines angehenden Studenten und an diesen selbst werden die Göttinger Universitätslehrer jener Zeit ausführlich vorgestellt49; dazu wird ein Studienplan entworfen und eine Bücherliste hinzugefügt. Natürlich stehen die juristischen Disziplinen im Vordergrund, aber auch Gatterers Diplomatik (also Urkundenlehre) und Schlözers Staatenhistorie werden dem Studenten empfohlen. Dann aber geht es weiter:

30Die Arzneikunst, soweit sie den Juristen nützlich, trägt Herr Wrisberg auf eine angenehme sanfte Art vor. ... Nicht bloß für Criminalisten sondern auch für Politiker, für künftige Ministers ist dieser Vortrag nützlich. Man wird aufmerksam auf die Einflüsse der Luft auf unsere Gesundheit, auf Pest und dergleichen. Man lernt für Geburten in Mutterleibe sorgen; kurz dieser Vortrag ist höchst angenehm und ich wünsche dem gemeinen Wesen Glück, Ärzte und Rechtsgelehrte aus Wrisbergs Schule empfangen zu haben.
31Die Landwirtschaft hat ihren eigenen Lehrer an Herrn Beckmann, einem vortrefflichen Gelehrten ... Seine Reisen, seine Kenntnisse der Naturgeschichte, der Landespolizei, der Naturlehre versprechen mir zum Voraus viel Gutes ... Der ökonomische Garten steht jedem seiner Zuhörer offen, und ich wünsche, daß Ihr Herr Sohn die Freundschaft dieses liebenswürdigen Gelehrten erlange. Nach seinem Vortrag liest man mit Vergnügen die Schriften des großen Hausvaters, und man lernt sie dann erst schätzen. Die mir in Handwerkssachen mitgeteilten Kenntnisse werde ich auch als Jurist zu benutzen wissen50.

32 Mit dem Hausvater ist das Werk eines Freiherrn von Münchhausen gemeint; zusätzlich werden dem Studenten Erxlebens Naturlehre und Naturgeschichte, Linnés System der Natur sowie Beckmanns Landwirtschaft und Technologie zur Anschaffung empfohlen. Man sieht: die praktischen Aufgaben des künftigen Amtmanns sind durch dieses Studienprogramm weitgehend abgedeckt.

33 Da es eine allgemeine Abschlußprüfung nicht gab und längst nicht jeder junge Jurist den akademischen Grad eines Lizentiaten oder Doktors erwarb, mußte man sich im 18. Jh. durch eine der neu eingeführten Zulassungsprüfungen für sein künftiges Amt qualifizieren. Für die Gerichtsverwalter in den adligen Patrimonialgerichten genügte die Advokatenprüfung; nicht wenige von ihnen haben tatsächlich zugleich auch als Advokaten praktiziert51. Die landesherrlichen Amtmänner dagegen mußten die untere der beiden staatlichen Richterprüfungen, das Auditorexamen, ablegen. Doch war dies von Territorium zu Territorium, von Herrschaft zu Herrschaft verschieden; oft verließ sich der Dienstherr auf Empfehlungen, Studienzeugnisse oder auf den persönlichen Eindruck52.

34 So verwundert es nicht, daß Amtmannskarrieren oft ganz anders verliefen als eine moderne Juristenlaufbahn. Nicht selten trat der junge Jurist zunächst als Hauslehrer in den Dienst eines adligen Herrn, dessen Sohn er dann als Hofmeister an die Universität begleitete, um seine Studien zu beaufsichtigen und die Kasse zu verwalten. Die Anstellung als Amtmann war dann vielleicht der nächste Schritt. Mancher Amtmann strebte danach ein höheres Richteramt an, vielleicht gar eine Präsentation zum Reichskammergericht53. Es fehlte aber auch nicht an Beispielen dafür, daß sich Männer aus hohen Regierungs- oder Gerichtskollegien auf die unabhängigere Stellung als Amtmann zurückzogen54.

V. Herkunft und soziale Stellung

35 Es war schon davon die Rede, daß der Adel im 17. und 18. Jh. die Amtsstellen zunehmend mied. Zwar gab es noch immer auch adlige Amtmänner; im Hannoverschen führten sie zur Unterscheidung von ihren bürgerlichen Kollegen den auszeichnenden Titel "Drost"55. Da sie aber das gleiche Studium absolvieren und die gleichen Prüfungen ablegen mußten wie die Nichtadligen, zog es sie begreiflicherweise zu den Stellen, wo ihnen ihr adliger Stand noch gewisse Vorrechte gewährte, also beim Militär oder bei Hofe.

36 Die Amtleute dagegen rekrutierten sich vorwiegend aus den Familien, die man heute als bürgerlich bezeichnen würde, obwohl das eigentliche Stadtbürgertum der Handwerker und Kaufleute kaum daran Anteil hatte. Es handelte sich um die schmale Schicht der Gebildeten: der studierten Juristen, Theologen oder Mediziner, Gymnasial- oder Universitätsprofessoren, höheren Beamten und städtischen Ratsfamilien. Sie waren zugleich die Leser der jetzt aufkommenden Zeitschriften, die Subskribenten der literarischen Neuerscheinungen, die Korrespondenten der gelehrten Gesellschaften, die mit ihren Preisaufgaben die Fragen der Zeit zur Erörterung stellten - von der Reform des Strafrechts bis zur Aufhebung von Flurzwang und Koppelweide, kurz: die Träger der aufklärerischen Geistesbewegung.

37 Im einzelnen gab es allerdings erhebliche Unterschiede. Der Zürcher Patrizier Salomon Landolt hatte gewiß eine andere Position als die württembergischen Amtmänner, die der kleinstädtischen "Ehrbarkeit" entstammten56. Dieser Schicht ähnelte dagegen die Gruppe von miteinander verschwägerten Beamten- und Pastorenfamilien, die in der Landgrafschaft Hessen im Jahrhundert nach der Reformation alle wichtigen Stellungen einnahmen57.

38 Ein besonders gut untersuchtes und dokumentiertes Beispiel bieten im Kurfürstentum Hannover jene etwa zwanzig "hübschen Familien", die man geradezu als ein "Staatspatriziat" bezeichnet hat58. In Abwesenheit des Kurfürsten, der als britischer König in England residierte, wurde das Land von einem Kollegium adliger Minister regiert. Die eigentliche Funktionselite bildeten jedoch die bürgerlichen Kabinettssekretäre, und sie entstammten den gleichen Familien, die auch die Amtmänner auf dem Lande stellten: den Bacmeisters, Hoppenstedts und Kestners, den Hinübers, Ramdohrs und Hüpedens, und anderen mehr. Einige Angehörige dieser Familien fanden sogar den Weg auf die nichtadlige Bank des Oberappellationsgerichts in Celle. Der Zutritt zur adligen Bank blieb ihnen allerdings selbst dann verschlossen, wenn ihre Familien dank einem kaiserlichen Adelsprivileg von Hinüber oder von Ramdohr hießen.

39 Wie sehr sich diese Familien ihrer Stellung und ihres Zusammenhalts bewußt waren, zeigt ein Hochzeitsgedicht aus dem Jahre 1736, "als Louise Kotzebue das einsame Leben in dem hochadligen Kloster Marienwerder mit der ehelichen Gesellschaft des hochwohlgeborenen Rechtsgelehrten Herrn Albrecht Andreas von Ramdohr hochvergnügt verwechselte"59:

40So viel Verdienst in Stamm und Zweigen
dem großen Namen
Ramdohr eigen:
so viel der
Kotzebuen Wert
der Engelbrechten Ruhm vermehrt,

So manchen herzlich reichen Segen
Bacmeister zu der Ehe legen:
so viel der Lindner kluger Geist

sich in beglückten Kindern weist:

So mannigfach, vermählte Beide

sei Eure nie gestörte Freude!

so mehre göttliches Geschick

Euer solcher Eltern würdig Glück!

41 Diese Verse geben ein genaues Bild der Abstammung beider Brautleute; lediglich zwei Namen von Voreltern geringeren Ansehens sind übergangen worden.

42 Es wäre nun sehr reizvoll, der Lebensweise und dem Kulturmilieu dieser Familien im einzelnen nachzugehen. So war etwa der Klosteramtmann Jobst Anton von Hinüber (1718-1784) der erste, der im Hannoverlande englische Gärten anlegte, und zwar sowohl auf seinem Klosteramt Marienwerder bei Hannover wie bei seinem Stadthause vor dem hannoverschen Steintor60. Von den Amtshäusern wie den Privathäusern in Hannover, Celle und anderswo gibt es übrigens eindrucksvolle Beschreibungen, welche die zweckmäßige Anordnung und Einrichtung der Dienst- und Amtsräume schildern - einschließlich der Treppe zum Obergeschoß, die mit niedrigen Stufen so breit sein muß, daß man zu zweit bequem nebeneinander gehen kann61. Doch kann dies hier nicht vertieft werden. Stattdessen soll uns eine besonders reizvolle Quelle das Bild des Amtmanns noch einmal anschaulich vor Augen rücken.

43 Es handelt sich um den Briefwechsel von Luise Mejer, der früh verwaisten Tochter einer der "hübschen Familien", mit ihrem späteren Ehemann Heinrich Christian Boie, dem schon erwähnten Landvogt zu Meldorf in Süderdithmarschen62. In Hannover hatten sich beide kennengelernt, und als Boie 1781 sein Amt in Meldorf antrat, blieb Luise zunächst in Hannover und Celle zurück. 1783 versuchte die Gattin des Grafen Christian von Stolberg in Tremsbüttel, sie als Gesellschafterin für sich zu gewinnen; Luise fühlte sich hier wie in einem goldenen Käfig. Dies beschleunigte den Entschluß zur Eheschließung mit Boie, die 1785 erfolgte. Ein Jahr später starb Luise (wie einst Lessings Frau und so viele andere) im Kindbett und nahm ihr Kind mit sich ins Grab.

44Nach seiner Ankunft in Meldorf schrieb Boie am 3. April 1781:

45Hier bin ich also endlich. Ich ging gestern abend gleich zu dem alten Landvogt. Er sowohl als seine Gemahlin konnten nicht freundschaftlicher sein. Der Wust der liegengebliebenen Sachen soll sehr groß sein, aber auf der Entscheidung mancher davon ruht, wie man mir sagt, der Segen des Landes, so daß ich also noch wohl meinem Vorweser Dank schuldig sein muß, daß er mir Dank und Segen zu verdienen übrig gelassen hat. Mein Entschluß, mich nicht zu tief in die juristischen Sachen einzulassen, ist gefaßt, da ich mir dadurch alle Zeit zu höheren Absichten nehmen würde. Ich will noch einen Sekretär annehmen und deswegen nächstens nach Göttingen an Pütter und Böhmer schreiben.

46 Drei Wochen später, am 28. April 1781, heißt es:

47Am Mittwoch erhielt ich meine Bestallung, wie der alte Konferenzrat [ein Ehrentitel des scheidenden Landvogts] seine Entlassung, und Dienstag, 1. Mai, trete ich mein neues Amt wirklich an. Den Freitag darauf, an welchem Tag Du diesen Brief erhalten wirst, halte ich meinen Gerichtstag. Da denke Dir mich vor einem kleinen Tisch sitzend, die Feder in der Hand, mit einem ernsthaften Amtsgesicht, den Sekretär vor mir und Advokaten und Parteien um mich herumstehend. Meine Bestallung kostet 110 Taler und der Titel, den ich noch nicht gesucht und folglich nicht habe, wird wenigstens ebensoviel kosten. Einen Schreiber habe ich nun und habe lieber einen solchen als noch einen Bedienten mehr annehmen wollen. Einen zweiten Sekretär suche ich noch immer vergebens. Ich schicke Dir hier die Zeichnung meiner Wohnung, die ich das letzte Mal nicht finden konnte. Das Zimmer mit den blauen Fliesen ist die Gerichtsstube. In dem tapezierten Zimmer stehen meine Bücher rund umher, daneben ein großer neu gemachter Schrank für Papier, und in der Mitte der Arbeitstisch. Gott gebe mir nun Mut, Kräfte, Entschlossenheit und Ausdauer, die ich alle sehr brauchen werde.

48 Am 11. Mai 1781 schreibt Boie:

49Gestern hab ich Verhör über eine Diebin gehalten und mehr herausgebracht, als mir lieb ist. Dies ist ein Mädchen von 21 Jahren, von der ich schon heraus habe, daß sie seit vier bis fünf Jahren gestohlen. Von der Unschuld der Sitten hier hab ich bei der Gelegenheit ein Beispiel erfahren. Eine Mutter und ein erwachsener Sohn, die nur ein Bett haben, schlafen ganz getrost in diesem Bette beisammen, und geben dem Mädchen, das spät noch ein Nachtlager bei ihnen sucht, den dritten Platz. Verwünscht - da werd ich unterbrochen.

50 Am 24. Mai heißt es hierzu weiter:

51Fürchte Dich nicht, daß ich [Diebe] hängen lassen muß. Wir hängen überhaupt keine Diebe mehr. Das Mädchen wird ein paar Jahre im Zuchthaus sitzen müssen. Übermorgen halte ich mit ihr das letzte Verhör.

52 Und schließlich am 31. Mai 1781:

53Meine Amtserfahrung vermehrt sich mit jedem Tag. Dienstag war ich bei einer Deichbesichtigung zu Büsum am äußersten Ende von Dithmarschen. Diesen Morgen war Konsistorium, den Nachmittag hab ich sechs bis acht Leute abhören müssen, und wie ich mitten im Verhör bin, wird mir berichtet, daß ein paar Meilen von hier einer gewaltsam ums Leben gekommen ist. Ich muß den Körper in meiner Gegenwart secieren lassen und reise morgen Abend dahin. Gottlob, das schwerste von allem, die Deichsache, scheint recht gut zu gehen. - Siehst du, Luise so ist Dein Boie zum Geschäftsmann schon mehr als halb eingeweiht...

54Soweit dieses anschauliche Selbstporträt! Vielleicht darf man noch hinzufügen, daß die Heranbildung von "juristischen Geschäftsmännern" das erklärte Ziel des Göttinger Studienprogramms war63.

VI. Schluß

55Im 19. Jh. ging diese Amtmannswelt allmählich zu Ende - zuerst in den napoleonisch geprägten süddeutschen Staaten, dann auch im übrigen Deutschland. Die Patrimonialgerichte wurden aufgehoben - hier früher, dort später, und auf der staatlichen Ebene wurden Justiz und Verwaltung voneinander getrennt, so daß nun neben den Bezirksamtmann, Amtshauptmann oder wie er sonst heißen mochte, der Amtsrichter trat. Weitere Veränderungen wie die Bildung großer Landkreise haben die Spuren der alten Amtsorganisation immer mehr verwischt, während sie sich in den Bezirken der Amtsgerichte vielleicht am längsten abzeichnete. In meiner Studentenzeit um 1950 gab es vor den Toren Göttingens immer noch das kleine Amtsgericht Reinhausen als letzten Überrest eines hannoverschen Klosteramtes.

56Im Königreich Hannover erfolgte die Trennung von Justiz und Verwaltung erst im Jahre 185264. Im Kurfürstentum Hessen war sie dagegen schon 1821 durchgeführt worden65, und dies führt noch einmal auf die Frage zurück, wer der im "Prinz Rosa-Stramin" geschilderte unsympathische Amtmann war. Das Büchlein erschien, wie berichtet, im Jahre 1834. Damals aber gab es einen Amtmann des dargestellten Typs schon seit dreizehn Jahren nicht mehr. Zudem hatte Ernst Koch selbst nur bis 1821 in Lenzbach (Witzenhausen) gelebt; damals war sein Vater in ein höheres Verwaltungsamt nach Kassel berufen worden. Wer aber war bis 1821 Amtmann in Witzenhausen? Niemand anders als der Vater von "Eduard Helmer" selbst! So muß man also befürchten, daß der Amtmann im "Prinz Rosa-Stramin" ein Porträt des, wie man weiß, ungeliebten Vaters ist66.

A. Abbildungen

Abb. 1. Das neue und das alte Haus Hardenberg. Göttinger Stammbuchkupfer (um 1812)Abb. 2. Klostergut Mariengarten bei Göttingen. Im Hintergrund Kirche und Konventsbau des 1245 gegründeten Zisterzienser-Nonnenklosters. Links davor das zur Zeit Kurfürst Georg Augusts (König Georg II. von England, 1727-1760) errichtete Amtshaus.Abb. 3. Amtmannsliteratur. Das schlichte Titelblatt von J.A. Weppen, Briefe eines Beamten (1800) kennzeichnet das Büchlein als Gebrauchsschrift.Abb. 4. J.G. Estor, Anweisung für die Beamten (1762). Die Titelvignette zeigt ein bäuerliches Gericht mit dem Richter (links, mit Stab) und seinen zipfelmützigen Schöffen oder Geschworenen sowie (rechts, mit Perücke und Talar) den statt eines Gerichtsschreibers protokollierenden Geistlichen (dazu Estor S. 47).Abb. 5. Gerichte im Alten Reich (18. Jh.). Eine Prozeßakte des Reichskammergerichts enthält diese Zeichnung, die den Instanzenzug von den Adels- und Klosterämtern bis zu den Reichsgerichten darstellt (Staatsarchiv Münster, Bildersammlung Ü 29).Abb. 6. F.Ph. Carl Boell, Sendschreiben (1775). In seiner Informationsschrift über Rechtswissenschaft und Rechtsstudium in Göttingen bekennt sich der Mitarbeiter des elsässischen Aufklärers Gottlieb Konrad Pfeffel (1736-1809) zu dem Göttinger Bildungsziel einer durch die Kenntnis von Natur und Geschichte angeleiteten Praxis.

Aufsatz vom 24. Januar 2002
© 2002 fhi
ISSN: 1860-5605
Erstveröffentlichung
24. Januar 2002