Zeitschrift Aufsätze

Eva Balz*
Christoph Kreutzmüller**

In letzter Instanz1 Jüdische Unternehmen vor dem Obersten Rückerstattungsgericht in Berlin 1953-1957

1Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete die Rückerstattung materiell feststellbaren Vermögens neben der Entschädigung für immaterielle Schäden eine wesentliche Säule der sogenannten Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts. Im Fokus dieses Aufsatzes steht die frühe Rückerstattung jüdischer Unternehmen in Berlin, die hinsichtlich ihres Umfanges und ihrer symbolischen Bedeutung einzigartig war. Dabei stehen die Einrichtung und die Entscheidungspraxis des 1953 gegründeten Obersten Rückerstattungsgerichtes (ORG) im Vordergrund. In dieser neuartigen Institution wirkten neben internationalen Juristen auch deutsche Richter an der Rechtsprechung mit. Im Vergleich zu den unteren Berliner Rückerstattungsinstanzen beschied das ORG überproportional häufig zugunsten der Antragsteller, außerdem klingt in den Urteilsbegründungen ein gewisses Einfühlungsvermögen in die schwierige Situation ehemals Verfolgter mit.

Einleitung

2Nach der deutschen Kapitulation 1945 wurde Berlin zwangsläufig, wie Martin Münzel und Kilian Steiner es formuliert haben, zum „Brennpunkt“ der Rückerstattung.2 Einerseits wurde eine besonders große Anzahl von Fällen verhandelt, andererseits war die Form der Rückerstattung von den drei Westalliierten in enger Abstimmung untereinander und mit dem West-Berliner Senat entworfen worden. Das 1953 gegründete Oberste Rückerstattungsgericht (ORG) bildet den Aushandlungsprozess unter diesen Akteuren vor dem Hintergrund des Kalten Krieges paradigmatisch ab und ist in seiner Wirkung auf den Ausgang der verhandelten Fälle bemerkenswert. Die Arbeit der internationalen und deutschen Richter verweist schließlich darauf, dass die fünfziger Jahre in der Bundesrepublik nicht ausschließlich von einer Verweigerungshaltung gegenüber den Ansprüchen der meist jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und des Massenmords geprägt waren.

3Eine Rückerstattung „feststellbarer Vermögenswerte an Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahmen“3 war vorgesehen, wenn Eigentum geraubt oder anderweitig ungerechtfertigt entzogen worden war, das noch vorhanden und auffindbar war. Da Forderungen nicht nur gegen die Bundesrepublik, sondern auch gegen natürliche oder juristische Personen gestellt werden konnten, war die Rückerstattung für Opfer und Nutznießer des Nationalsozialismus ein konfliktreiches Spannungsfeld.4 Neben der Rückerstattung stellte die Entschädigung die zweite Säule der sogenannten „Wiedergutmachung“ für nationalsozialistische Verbrechen dar. Im Prozess der Entschädigung sollten immaterielle Einbußen an Gesundheit, beruflichem Fortkommen und dergleichen sowie auch materielle Schäden, etwa durch vollständige Zerstörung etwa im Pogrom durch die Bundesrepublik als Rechtsnachfolger des „Dritten Reiches“ bewertet und ausgeglichen werden. Auf die Praxis der Entschädigung kann in diesem Aufsatz freilich nur am Rande eingegangen werden.

4Trotz ihrer Brisanz und der großen Zahl von Fällen ist die Rückerstattung von Gewerbevermögen in West-Berlin noch nicht in den Fokus der seit den späten 1980er Jahren intensivierten Forschung gekommen.5 In der vom Bundesministerium der Finanzen herausgegebenen ersten Gesamtdarstellung der „Wiedergutmachung“ wird das Berliner ORG zwar angesprochen und auf Arbeitsbedingungen und Probleme in alltäglichen Abläufen hingewiesen. Eine Analyse in Hinblick auf die Ergebnisse seiner Arbeit und auf seine politische Bedeutung bleibt indes aus.6 Jürgen Lillteicher geht in seiner Studie in einem Kapitel auf „Die verspätete Regelung der Rückerstattung in der britischen Zone und Berlin“ ein, die besondere Situation der geteilten Stadt und deren Folgen für die Praxis der Rückerstattung werden indes kaum thematisiert. Auch die Einrichtung des ORG 1953 findet keine Erwähnung.7 Diese Forschungslücke hängt einerseits damit zusammen, dass der Prozess der Rückerstattung noch immer nicht abgeschlossen ist und mehrere tausend Fälle aus dem ehemaligen Ostteil der Stadt noch nicht entschieden worden sind.8 Andererseits fällt die Geschichte der Restitution in der formell bis 1990 unter alliierter Kontrolle stehenden ehemaligen Reichshauptstadt nicht nur rechtlich aus dem Rahmen. Sie ist auch wegen der schieren Anzahl der dort verhandelten Fälle schwer zu erfassen. Allein im Landesarchiv Berlin sind über eine Million Akten der Wiedergutmachungsämter genannten Rückerstattungsbehörden überliefert, die erst seit kurzem wissenschaftlich erschlossen sind. Wenn auch die West-Berliner Behörden, wie im Folgenden noch darzustellen ist, ab 1957 teils internationale Aufgaben hatten, so deuten sich hier doch Umfang und Bedeutung an, die der Rückerstattung in West-Berlin zukam.

5Einen ersten Zugang zu Verlauf und Praxis der Rückerstattung in West-Berlin lässt sich über eine „Archiv für Wiedergutmachung“ genannte Entscheidungssammlung des ORG gewinnen, die im Landesarchiv Berlin überliefert ist und für unsre Zwecke ausgewertet wurde. Einen ähnlichen methodischen Zugriff nutzte auch der Lübecker Historiker Jürgen Lillteicher, der Akten der alliierten obersten Rückerstattungsgerichte auswertete, um Aussagen über die Rückerstattung auf Bundesebene treffen zu können. Seine Begründung gilt gleichermaßen für das hier gewählte Beispiel: Es kann bei Verfahren, die so konfliktreich waren, dass sie bis zur obersten juristischen Instanz gereicht wurden, angenommen werden, dass die Parteien „die bürokratischen Regeln und die Sprache der Verrechtlichung“ durchbrachen und „von juristischen Schemata befreite und daher für den Historiker besonders wertvolle Aussagen“ machten.9

6Um die Bedeutung des ORG einordnen zu können, ist es zunächst notwendig, den Kontext seiner Entstehung, die Geschichte der frühen Rückerstattung in (West-)Berlin zu skizzieren. Dabei soll in einem eigenen Abschnitt auch auf die besonderen Schwierigkeiten eingegangen werden, auf die die Rückerstattung in der geteilten Stadt stieß. Hier sollen weniger die Entscheidungen einzelner Akteure im Blickpunkt stehen, sondern vielmehr ausgelotet werden, welche Spannungsfelder und oft divergierende Interessen die Entwicklung und schließlich die Form der Rückerstattung beeinflussten. Anschließend wird der Prozess der Etablierung des ORG dargestellt, der offenbar vom Bemühen um politische Einigung geprägt war. Da das ORG nicht nur zwischen den drei Westalliierten, sondern letztlich auch mit West-Berliner Partnern ausgehandelt wurde, lassen sich an diesem Prozess die Annäherung der drei ehemaligen Besatzer untereinander und die politische und wirtschaftliche Westintegration der Bundesrepublik verdichtet nachvollziehen.

Die Vorgeschichte des ORG: Raub und Rückerstattung in West-Berlin

7Berlin war 1933 eine der größten Industriestädte der Welt, internationales Handelszentrum und Sitz einer bedeutenden jüdischen Gemeinde. Hier hatte nicht nur ein Viertel aller deutschen Aktienunternehmen seinen Sitz, sondern es wohnten hier auch fast ein Drittel aller Juden in Deutschland. Vorsichtig geschätzt waren rund 50.000 Gewerbebetriebe in der Stadt ansässig, die als jüdisch betrachtet wurden und in der Folge vom Prozess der Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit betroffen waren.10 Trifft Avraham Barkais Annahme zu, dass es 1933 rund 100.000 jüdische Gewerbebetriebe in Deutschland gegeben hatte, dann stellten die Berliner also rund die Hälfte all jener Unternehmen dar,11 die jüdisch im Sinne der von den Nationalsozialisten gebrauchten Definitionen waren.12 Nach der Machtübernahme stieg die Bedeutung der Stadt für jüdische Gewerbetreibende nochmals deutlich an, weil hunderte Betriebe aus der Provinz – und ab 1935 sogar aus anderen Großgemeinden – in die Reichshauptstadt verlegt wurden, da die Juden hofften, dort Schutz und ein Auskommen finden zu können.13

8Die besonders in den letzten Monaten des Krieges schwer zerstörte Reichshauptstadt wurde ab 1945 formell von den vier Siegermächten gemeinsam verwaltet, auf Grund der bekannten politischen Differenzen jedoch bald in zwei Hälften geteilt. Dies hatte natürlich massive Auswirkungen auch auf die Frage der Rückerstattung. Diese wurde durch einen Befehl der dem Alliierten Kontrollrat unterstellten Alliierten Kommandantura zur „Anmeldung der in Auswirkung der Nazi-Gesetzgebung oder sonstiger Maßnahmen des Nazi-Regimes entstandenen Vermögensschäden“ im Sommer 1945 eingeleitet und ab Frühjahr 1947 im Kontrollrat diskutiert. Während die USA auf eine umfassende Rückerstattung im Sinne einer Wiederherstellung der kapitalistischen Ordnung drängten, strebte die sowjetische Militärregierung eine staatliche Kontrolle der Kernindustrie an. In der festgefahrenen Situation hatten die USA14 und Frankreich15 im Herbst 1947 zunächst einseitig Rückerstattungsgesetze erlassen, die freilich nur in ihren jeweiligen Besatzungszonen, nicht aber in den entsprechenden Sektoren in Berlin galten.16

9Die Gegensätze konnten nicht überwunden werden, so dass noch keine Sektoren-übergreifende Regelung für die Rückerstattung gefunden worden war, als sich der sowjetische Vertreter im Juni 1948 aus Protest gegen die Währungsreform aus der Kommandantura zurückzog. Die sich hieran anschließende – bis zum Mai 1949 fortgeführte – Blockade der westlichen Sektoren der Stadt ließ die Frage der Rückerstattung in den Hintergrund treten. Außerdem war auch unter den Westalliierten strittig, ob zugestanden werden sollte, dass Gegenstände aus jüdischem Eigentum unter bestimmten Umständen gutgläubig erworben werden konnten und damit rechtlich nicht nur in den vorläufigen Besitz, sondern in das bleibende Eigentum des Erwerbers übergegangen waren. Was sollte außerdem mit jenen Gewinnen geschehen, die die Unternehmen, nachdem sie in den Besitz von Nicht-Juden gelangt waren, abgeworfen hatten und wie mit erbenlosem Vermögen umgegangen werden?17 Im Februar 1949 – mehr als ein halbes Jahr nach dem Auszug des sowjetischen Vertreters aus der Alliierten Kommandantura – erließen die Westalliierten einen gemeinsamen Befehl zur Anmeldung von Rückerstattungsforderungen in West-Berlin, der „als einleitende Maßnahme zur rechtmäßigen Vermögenserstattung“ verstanden werden sollte.18 Jedoch folgte die tatsächliche Anordnung zur „Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an Opfer nationalsozialistischer Unterdrückungsmaßnahmen“ nochmals mit einiger Verzögerung, am 26. Juli 1949. In ihr wurde das Ziel festgeschrieben, „in möglichst großem Umfange beschleunigt die Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände […] an natürliche oder juristische Personen zu bewirken, denen sie in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 […] ungerechtfertigt entzogen worden sind.“19 Formal stützte sich die Anordnung auf die in der britischen Besatzungszone geltende Regelung, die selbst wiederum eine vereinfachte Fassung des amerikanischen Gesetzes darstellte.20

10Dass diese alliierten Gesetze bei vielen Deutschen auf wenig Gegenliebe stießen, ist bekannt. Schon im November 1947 hatte die New York Times trocken festgestellt, die Restitution sei “highly unpopular with those who profited under the Nazi system”.21 Nach einer repräsentativen Umfrage hießen auch nur elf Prozent der Befragten in der Bundesrepublik die Wiedergutmachung der an den Juden verübten Verbrechen ohne Einschränkungen gut.22 Entsprechende Untersuchungen liegen zwar für West-Berlin nicht vor. Jedoch gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Ergebnisse dort von denen in der Bundesrepublik abwichen, zumal die „Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland“ (AWZ) in ihren Berichten aus West-Berlin auch 1953 noch auf den Unwillen der nicht-jüdischen Bevölkerung über die angebliche Höhe der Wiedergutmachung hinwies.23 Die Berichterstattung im West-Berliner „Kurier“ nach dem Befehl zur Anmeldung von Rückerstattungsforderungen im Februar 1949 ist paradigmatisch für die herrschende Tendenz, eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung abzulehnen: So wurde zwar eingeräumt, „kein gerecht Denkender“ könne die Notwendigkeit der Regelung bestreiten, gleichzeitig aber betont, es stünde, sofern „ein loyaler Erwerber und ein nicht von Haß und Vergeltungsdrang erfüllter Antragsteller“ sich begegneten, nicht „Schuld und Sühne“ zur Diskussion. Schließlich, so das Blatt, sei der „große Schuldige (...) der nicht mehr bestehende Nazistaat“. Entsprechend wurde Rücksichtnahme gegenüber den neuen Besitzern entzogener Werte gefordert und eine nur begrenzte Toleranz der Maßnahmen vorhergesagt:

11„Das natürliche Rechtsgefühl der Mehrheit unseres Volkes bejaht die Verpflichtung zur restlosen Wiedergutmachung. Das unverdorbene Rechtsgefühl des Volkes geht aber nicht mit, wenn es sich darum handelt, ob jetzt die wirtschaftliche Existenz des anständigen Käufers, der im besten Glauben kein Unrecht gewollt hat, vielfach sogar vom jüdischen Eigentümer zum Kauf veranlasst und darum gebeten worden ist, vernichtet werden soll.“24

12Eine ähnliche Lesart der im Namen des Nationalsozialismus verübten Verbrechen wie der „Kurier“ legten die Tageszeitungen „Berliner Morgenpost“ und „Telegraf“ nahe, die in der Berichterstattung zur Verkündung des gleichen Befehls im Juli 1947 zeittypisch von den „Opfern des Hitler-Regimes“25, beziehungsweise „des Naziregimes“26 sprachen. Damit wurde ausgeblendet, dass einvernehmliche – um nicht zu sagen: faire – Übernahmen jüdischer Eigentums durch Nicht-Juden Ausnahmen und nicht die Regel darstellten und sich überdies im Prozess der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der Juden längst nicht nur Anhänger oder Vertreter des nationalsozialistischen Regimes bereichert hatten, auch wenn der Staat sicherlich als Hauptnutznießer des Prozesses anzusprechen war.27 Neben der weitverbreiteten Unfähigkeit, sich der Verantwortung zu stellen, und auch, das Leid der Opfer anzuerkennen, war für die ablehnende Stimmung gegenüber möglichen Vermögenstransfers sicherlich auch die schlechte Versorgungssituation mit Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs mitentscheidend. Hinzu kam der Umstand, dass die West-Berliner Wirtschaft in Folge der Insellage Anfang der 1950er-Jahre kurz vor dem Kollaps stand und nur durch die – allerdings verspätet eintreffenden – ERP-Gelder und Zuwendungen aus der Bundesrepublik am Leben gehalten werden konnte.28

13Gleichwohl erließen die West-Berliner Behörden auf der Grundlage der Rückerstattungsanordnung im Oktober 1949 eine Anordnung „über die Errichtung und Organisation der Wiedergutmachungsbehörden in Groß-Berlin“, die trotz ihres Titels natürlich nur die westlichen Sektoren betraf.29 In der Folge wurden in der Stadt die sogenannten Wiedergutmachungsämter etabliert, die aus einem Vorsitzenden mit der Befähigung zum Richteramt und zwei Mitgliedern mit der Befähigung für den höheren Verwaltungsdienst bestanden. Damit war eine breitere Basis für die Rekrutierung von Mitarbeitern geschaffen worden. Vor dem Hintergrund der kaum entnazifizierten deutschen Justiz wollte insbesondere die US-Militärregierung vermeiden, Richter anzustellen, die sich dem nationalsozialistischen Regime angedient hatten oder Mitglieder der NSDAP gewesen waren.30 Ein weiterer Kontrollmechanismus wurde dadurch eingebaut, dass die Anmeldungen der Ansprüche bei einem „Treuhänder der amerikanischen, britischen und französischen Militärregierung“ erfolgen sollten. Die Treuhänder verzeichneten alle Eingänge und leiteten die Anträge dann an die Wiedergutmachungsämter weiter. Diese prüften, ob der begründete Verdacht bestand, dass ein Vermögensgegenstand entzogen worden war. Da der Transfer jüdischer Unternehmen in den Besitz von Nicht-Juden auf dem Verwaltungswege erfolgt war und damit rein äußerlich kaufmännischen und juristischen Normen entsprach, stärkte die Rückerstattungsanordnung die Position der Antragssteller durch die pauschale Vermutung der ungerechtfertigten Entziehung. Entsprechend sollte der Antragsteller also nur beweisen müssen, dass er im relevanten Zeitraum einen Vermögensgegenstand veräußert hatte und zum Kreis der unmittelbar Verfolgten gehörte. Die Rückerstattungspflichtigen konnten zu ihren Gunsten nachweisen, dass ein Antragsteller einen angemessenen Kaufpreis erhalten hatte, über den er frei verfügen konnte. Bei Rechtsgeschäften, die nach Verkündigung der Reichsbürgergesetze im September 1935 stattgefunden hatten, mussten sie zusätzlich nachweisen, dass der Verkauf auch ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus abgeschlossen worden wäre und dass der Erwerber den Schutz der Vermögensinteressen des Antragsstellers oder seines Rechtsvorgängers wahrgenommen hatte.31

Schwierigkeiten und Probleme der Rückerstattung

14Die Arbeit der Wiedergutmachungsämter sollte darauf hinzielen, zwischen den Parteien gütliche Einigungen herbeizuführen, denen die Rechtswirkung eines gerichtlichen Vergleichs zukam. Bei Scheitern einer solchen Einigung wurde die Angelegenheit an eine der Wiedergutmachungskammern verwiesen, die am Landgericht angesiedelt waren und als zweite Instanz fungierten. In West-Berlin wurden die meisten Fälle tatsächlich bereits in der ersten Instanz endgültig erledigt.32 Jedoch verlief der Prozess der Rückerstattung in West-Berlin schleppender als in den anderen Teilen Deutschlands unter westalliierter Kontrolle. Allein die Anmeldung führte zu Verzögerungen, wie das Beispiel des Kleidungsfabrikanten Juda Blonder zeigt. Blonder hatte am 12. Juni 1950 aus Mailand die Rückerstattung seiner Kleiderfabrik, die er bei seiner Flucht nach Italien zurückgelassen hatte, bei der „Wiedergutmachungsstelle der jüdischen Kultusgemeinde in Berlin“ angemeldet.33 Die Gemeinde leitete den Antrag zwar postwendend an den „Treuhänder der Amerikanischen, Britischen und Französischen Militärregierung für zwangsübertragene Vermögen“ weiter.34 Diese Stelle jedoch benötigte fast neun Monate, um den Antrag an die Wiedergutmachungsämter zu übergeben.35

15Bis Oktober 1953 waren so in West-Berlin erst rund sieben Prozent der Rückerstattungsanträge entschieden worden.36 Während in der ehemaligen US-Zone vier Jahre später bereits 98 Prozent aller Fälle abgewickelt waren, waren es in West-Berlin nur 82 Prozent.37 Neben einer ineffizienten, aufgeblasenen Bürokratie38 war ein weiterer Grund für die relativ schleppende Bearbeitung, dass es in Berlin relativ viele sogenannte nachrichtenlose Vermögen gab, weil über 55.000 Juden aus der Stadt deportiert und ermordet worden waren.39 Vor diesem Hintergrund erklärte die Jewish Restitution Successor Organization (JRSO) Anfang 1953, sie habe das „Hauptgewicht ihrer Arbeit nach Berlin verlegt, um die Abwicklung der Rückerstattungsforderungen für das herrenlose und unbeanspruchte Vermögen in der früheren Reichshauptstadt weitestgehend zu beschleunigen."40 Zu diesem Zeitpunkt hatte die JRSO rund 55.000 – der insgesamt rund 127.000 – Anträge eingereicht.41 Um die Fristen einhalten zu können, hatte die Nachfolgeorganisation, die in West-Berlin mehr als hundert Mitarbeiter beschäftigte, vielfach Ansprüche behauptet, die sie in der Folge mühsam belegen musste. In diesem Zusammenhang veröffentliche die JRSO Anfang 1954 auch eine Suchliste, mit der sie Informationen über rund 3.000 Unternehmen erbat, für die sie Rückerstattungsansprüche angemeldet hatte.42 Neben der JRSO und dem Wiedergutmachungsamt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin war das 1948 in London gegründete United Restitution Office (URO) die wichtigste jüdische juristische Hilfsorganisation. Langjähriger Generalsekretär der Einrichtung, die ab 1955 als United Restitution Organization firmierte, war notabene Hans Reichmann, der als ehemaliger Syndikus des Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens den Prozess der Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin aus eigener Anschauung kannte.43

16Die langsame Bearbeitung war für die Antragssteller, die teilweise nur unter Zurücklassung ihres gesamten Vermögens aus dem Deutschen Reich hatten flüchten können und nun mit Briefen und Formularen konfrontiert wurden, die der Sprache und dem Tonfall nach dem nationalsozialistischen Duktus sehr ähnlich waren, schwer erträglich. So war der 77-jährige Heinrich Busse, der den Deportationen 1943 im letzten Moment hatte entgehen können und anderthalb Jahre untergetaucht überlebt hatte, nach seiner Emigration nach New York dort 1952 auf öffentliche Wohlfahrtskassen angewiesen, um seine Behandlung in einem Krankenhaus bezahlen zu können. In Berlin hatte der Kaufmann nicht nur sein Unternehmen für Tischlereibedarf, sondern auch ein Wertpapierdepot und eine stattliches Haus zurücklassen müssen.44 Der schwierigen Situation versuchten zahlreiche Antragssteller durch Eingaben zu begegnen. Nachdem alle Bemühungen „durch Rückerstattungsprozesse eine Anzahlung auf meine Forderungen oder einen Teil meines Betriebskapitals [...] zurückzuerhalten“, ohne Erfolg geblieben waren, wandte sich der ehemalige Teppichhändler Nissim Zacouto 1953 beispielsweise direkt an Bundeskanzler Konrad Adenauer, der im September 1952 das sogenannte Wiedergutmachungsabkommen (Reparations Agreement between Israel and West Germany) mit dem Staat Israel geschlossen hatte:

17„Sehr geehrter Herr Bundeskanzler ich habe alles getan, was das REG [Rückerstattungsgesetz, die Verf.] und Wiedergutmachungsgesetz vorschreiben [...] - doch Anträge, Schriftsätze und Beweise brachten mir bisher in meiner schwierigen Lage keine Entschädigung oder Anzahlung, sondern nur neue Spesen für Anwälte usw. [...] Die deutschen Firmen, die sich an meinen Teppichen bereicherten, sind an Ort und Stelle, haben Geld und Zeit, um die Prozesse endlos hinauszuziehen, während mir, dank des Raubes meines deutschen Vermögens beides fehlt.“45

18Neben der langsamen Bearbeitung wurde der Umstand, dass es in West-Berlin viel seltener zu Vergleichen als in der US-Zone kam, von den Zeitgenossen als Indiz für eine Fehlentwicklung gedeutet.46 Ein wesentlicher Grund für die hohe Zahl von Ablehnungen durch die Wiedergutmachungsämter war indes nicht von diesen selbst zu verantworten, sondern der besonderen Situation in der geteilten Stadt geschuldet. Denn anfangs galt der Grundsatz, dass alle Vermögenswerte, die im Ostteil der Stadt gelegen hatten, nicht bearbeitet werden sollten.47 Da das Zentrum der jüdischen Gewerbeunternehmen sich im Geschäftszentrum im Stadtbezirk Mitte befunden hatte, der nun zum sowjetischen Sektor und faktisch auch zur sowjetischen Besatzungszone gehörte, fielen sie zunächst aus der Rückerstattung heraus. 1954 wurde jedoch die Rückerstattungsanordnung dahingehend verändert, dass „Entziehungsakte des Reichs in Ostberlin als in Westberlin vorgenommen“ galten, sofern der Geschädigte in der „maßgebenden Zeit (…) in Westberlin oder der Bundesrepublik gewohnt hatte“.48

19Für die Antragsteller kam schließlich ein Problem hinzu, das paradoxerweise wenigstens teilweise auf den relativ großen Erfolg der Behauptungsstrategien jüdischer Gewerbetreibender vor 1945 zurückzuführen war. Da die Mehrzahl der jüdischen Unternehmen in Berlin bis 1938 aufrecht erhalten worden war, litten sie besonders an den Gewaltexzessen, die im November 1938 im mehrtägigen Pogrom kulminierten. In der Folge der Zerstörungen wurden fast 80 Prozent der jüdischen Einzelhandelsunternehmen liquidiert.49 Der Schwiegersohn des am 10. November 1938 vor seinem Betrieb ermordeten Likörfabrikanten und -händlers Ernst Feuerstein fasste die Situation gegenüber den Behörden lapidar zusammen:

20„Wegen der totalen Zerstörung und Plünderung war ein Verkauf des Geschäfts, der Waren, des Inventars, der Außenstände oder des goodwill völlig ausgeschlossen und es wurde liquidiert.“50

21Die zerstörten und liquidierten Betriebe konnten ebenso wenig rückerstattet werden wie jene, die entweder durch Bombardement und Kriegshandlungen vernichtet oder aber von ihren Nicht-jüdischen Erwerbern nach 1945 aufgegeben wurden, etwa, weil absehbar war, dass West-Berlin seine Funktion als Handels- und Industriemetropole auf längere Zeit verloren hatte. Anträge, die solche untergegangenen Unternehmen betrafen, wurden von den Wiedergutmachungsämtern zwar abgelehnt, jedoch konnten sich die Geschädigten dann mit Schadensersatzansprüchen an die Entschädigungsämter wenden. Allerdings wurden für den West-Berliner Finanzhaushalt erst 1951 Mittel für die Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus bewilligt.51 Im Vergleich mit fast allen Bundesländern bildet West-Berlin damit das Schlusslicht – nur in Bayern wurden ebenso spät Gelder freigegeben. Nachdem im Oktober 1952 die Frist zur Anmeldung abgelaufen war und sich insgesamt 180.000 Ansprüche angesammelt hatten, erklärte der Leiter der Berliner Entschädigungsbehörde, dass die Stadt von Ansprüchen „überflutet“ werde. Zwischen 1950 und 1952 seien erst 12.000 Anträge entschieden worden, so dass es noch mindestens zehn Jahre dauern werde, bis alle Fälle abgeschlossen seien.52 Die Akten zeigen, dass auch dies untertrieben war und viele Fälle auch 1962 noch nicht abgeschlossen waren.

Die Etablierung des Obersten Rückerstattungsgerichts: Aushandlungswille und Pragmatismus

22Trotz der erwähnten Verzögerungen nahm der Prozess der Rückerstattung auch in West-Berlin Anfang der 1950er Jahre langsam an Fahrt auf. Sehr schnell zwang die große Zahl von Anträgen zu einer Ausdehnung des Apparats. 1953 waren so zwanzig Wiedergutmachungsämter und vierzehn Wiedergutmachungskammern am Landgericht mit der Rückerstattung beschäftigt.53 Offen war jedoch zunächst, welches Gericht nach der dritten Instanz, dem Kammergericht, als höchste Rückerstattungsinstanz fungieren sollte. Während Verfahren aus dem amerikanischen Sektor an den Court of Restitution Appeals (CORA) in Nürnberg und Verfahren aus dem britischen Sektor an das Board of Review (BOR) in Herford weitergeleitet wurden, verwiesen die Gerichte Fälle aus dem französischen Sektor an das West-Berliner Kammergericht. Problematisch an dieser Praxis war, dass die drei höchsten Gerichte zu unterschiedlichen Entscheidungen und Bemessungen kamen.54 An der Rechtsprechung des Kammergerichts entzündete sich zudem schnell Kritik. Nach einem Besuch in Deutschland erklärte so Meinhold Nussbaum, der Leiter des Verbandes der Deutschen in Israel, Ende 1952, dass die Rückerstattung in der amerikanischen Zone zwar gut voran gehe, er sich hinsichtlich der Rückerstattung in West-Berlin „nicht so positiv äußern“ könne.55 So habe „die Rechtsprechung des Kammergerichts in mehreren Punkten mehr zum Nachteil der Rückerstattungsberechtigten verschoben“.56 Nachdem im Februar 1953 der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldmann, bei einem Besuch in West-Berlin die Rückerstattungsfrage zu seinem Hauptanliegen gemacht hatte, sicherte ihm der Regierende Bürgermeister, Ernst Reuter, zu, die Rückerstattungspraxis überprüfen zu lassen.57

23Die Überprüfung ergab, dass die Praxis der Einschaltung von gleich drei höchsten Instanzen nicht nur sehr zeitaufwendig und kostenintensiv war und von einer Einheitlichkeit der Rechtssprechung insbesondere im Hinblick auf Berechnungen bezüglich der Rückgewähr der Kaufpreise keine Rede sein konnte.58 Deshalb schien die Gründung einer eigenständigen höchsten Rückerstattungsinstanz in West-Berlin unumgänglich.59 Im Mai 1953 bereitete die Alliierte Kommandantura einen Befehl zur Gründung eines Obersten Rückerstattungsgerichts vor und ließ dabei darauf hinweisen, dass es auch strittige Urteile des Kammergerichts waren, die zu diesem Schritt zwangen. Konkret hatte das Kammergericht auf der Grundlage der Bestimmung entschieden, dass ein Unternehmen, welches im späteren sowjetischen Sektor lag, auch dann nicht unter die Rückerstattung fallen solle, wenn der Gewerbetreibende im Westteil der Stadt gelebt hatte. Für Unverständnis hatte zudem ein weiteres Urteil gesorgt, das aussagte, dass Juden, die sich zwischen 1933 und 1945 im Ausland befunden hatten, nicht als Verfolgte betrachtet werden könnten und deshalb auch kein Anrecht auf die Rückerstattung des ihnen entzogenen Vermögens hätten. Diese und andere Entscheidungen sollten nun vom ORG nachgeprüft werden.60

24Nachdem sich die Gründung des Gerichts – u. a. auf Grund des Vorschlags des West-Berliner Justizsenators, ein ehemaliges NSDAP-Mitglied zum Richter zu berufen – verzögert hatte,61 wurde schließlich am 28. Oktober 1953 auf der Grundlage eines Kommandanturbefehls das ORG etabliert.62 Damit hatte die Rückerstattung ihre endgültige institutionelle Form erreicht:

Rückerstattungsinstanzen 1953

25Das ORG hatte in seinen Sitz in einem Haus das teilweise auf einem Grundstück in der Rauchstr. 17 erbaut worden war, das der Familie des jüdischen Unternehmers Paul von Mendelssohn-Bartholdy gehört hatte. 1940 als Jugoslawische Botschaft eröffnet, wurde es später Zwischenquartier von Alfred Rosenbergs Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete. Insbesondere in Westeuropa war Rosenberg freilich weniger als „Ostminister“, sondern als Leiter des nach ihm benannten Einsatzstabes in Verbindung gebracht wurde, der den Raub von Kunstgegenständen aus jüdischem Eigentum koordinierte.63 Diese offensichtliche ironische Fügung entging auch der ausländischen Presse nicht: So ist etwa der Artikel zur Eröffnung des Gerichtes in „The Times“ lakonisch mit „Justice in Rosenberg’s Dining Room“ überschrieben.64 Auch andere internationale Zeitungen berichteten intensiv über die Einführung des ORG. schätzte Die „New York Times“, die Fragen der deutschen „Wiedergutmachung“ häufig und kritisch diskutierte, schätzte seine Aufgabe als anspruchsvoll ein. Schließlich würden die vorliegenden Fälle „many difficult decisions“ erfordern.65 Die große internationale Aufmerksamkeit spiegelt den Symbolwert der Vorgänge in West-Berlin und dürfte gleichzeitig dazu beigetragen haben, dass die Einrichtung des ORG für die ehemaligen West-Alliierten von hoher Priorität war. Außerdem stand das ORG von Anfang an unter großem Druck, da bereits einige Hundert Verfahren aufgelaufen waren, die auf seine Entscheidung warteten.66

26Als Institution stellte das ORG eine Neuerung dar. Vergleichbare Instanzen wurden in anderen Teilen der Bundesrepublik erst nach der Ratifizierung des sogenannten „Überleitungsvertrages“ im Jahr 1954 gebildet.67 Bemerkenswert war die internationale Besetzung des ORG: Es gab drei deutsche und je einen englischen, französischen und amerikanischen Richter, sowie einen Präsidenten, der kein deutscher, französischer, britischer oder amerikanischer Staatsbürger sein durfte. Für diese Funktion wurde der 63-jährige Anders Torsten Salén berufen, ein schwedischer Richter mit langjähriger internationaler Erfahrung.68 Die Zusammensetzung des ORG und die daraus resultierende Verwendung dreier Sprachen – deutsch, englisch, französisch – stellten das Gericht vor hohe technische und administrative Herausforderungen.69 Ein weiterer Faktor, der großen Verwaltungsaufwand verursachte, war, dass die ausländischen Richter sich zwar ins Rückerstattungsrecht eingearbeitet hatten, nicht jedoch in die anderen Rechtsgebiete, die häufig im Zuge der Verfahren berührt wurden. Um diese Wissenslücken zu schließen, wurden deutsche Juristen als Rechtsberater des Gerichts bestellt.70 Aufgrund seines internationalen Charakters und der Einbindung deutscher Richter stellte das Gericht eine Neuerung in der Bundesrepublik dar, was ein Blick auf die obersten Rückerstattungsgerichtshöfe in den westlichen Besatzungszonen zeigt: Das Board of Review (BOR) und der Court of Restitution Appeals (CORA) in Herford, beziehungsweise Nürnberg, waren mit britischen respektive amerikanischen Richtern besetzt. Der französische Cour Supérieure pour les Restitutions (CSR) sah zwar neben einem französischen Präsidenten und zwei französischen Beisitzern auch zwei deutsche Beisitzer vor, blieb damit als bi-nationale Institution jedoch weit hinter dem übergreifenden Ansatz des West-Berliner ORG zurück.

27Auch die Verfahrensordnung des ORG war nicht nur abweichend zu den untergeordneten West-Berliner Instanzen aufgebaut, sondern unterschied sich ebenso vom CORA wie vom BOR.71 Besonders gegenüber der kleinteiligen Verfahrensordnung des CORA72 zeichnete sich die Verfahrensordnung des ORG durch Knappheit und Pragmatismus aus. Diese Eigenschaften kennzeichneten auch das Prozedere. So wurde die Anzahl der Schriftsätze durch Artikel 20 der Verfahrensordnung auf den Überprüfungsantrag und die Antwort des Gerichtes beschränkt. Nachträge und weitere Dokumente durften nur nach Genehmigung eingereicht werden.73 Zusätzlich enthielt die Ordnung Bestimmungen über Form und Inhalt der einzureichenden Überprüfungsanträge: Über die notwendigen Angaben über Aktenzeichen und Datum der angefochtenen Entscheidung und die Namen der Beteiligten hinaus war lediglich eine Erklärung darüber erforderlich, was an einer Entscheidung der Wiedergutmachungskammer des Landgerichts moniert wurde.74 Diese Beschränkung, die auch deshalb als sinnvoll erachtet wurde, weil vor dem ORG keine Anwaltspflicht bestand,75 spiegelt die herrschende Notwendigkeit an schnellen, unkomplizierten Abläufen wider und sollte offenbar die finanzielle Belastung der Antragsteller möglichst minimieren.76

28Das Vorhandensein eines Registrars, dem nach englischem Vorbild die Leitung der Geschäftstelle, aber auch der gesamte Schriftverkehr mit den Parteien zufiel, stellte nach kontinentaleuropäischen Vorstellungen eine Besonderheit dar.77 Weitere Beispiele für die Vermischung von Verfahrenstraditionen waren die Veröffentlichung der Gerichtsentscheidungen mit den Namen der betroffenen Parteien (entgegen der deutschen Tradition, Aktenzeichen zu gebrauchen), aber auch die Gliederung von Beschlüssen nach der in West-Deutschland gebräuchlichen Reihenfolge.78 Die Verbindung kontinentaler und angelsächsischer Rechtstraditionen, wie sie an diesem Beispiel deutlich wird, galt unter Juristen als wichtigstes Merkmal des ORG und kennzeichnete die Institution deutlich als das Ergebnis von Verhandlungen, Kompromissen und der Konzilianz der drei Besatzungsmächte in Zusammenarbeit mit den West-Berliner Behörden. Im Wissen um die zugrundeliegenden Aushandlungsprozesse schrieb ein Vertreter der juristischen Fachöffentlichkeit kurz nach Inkrafttreten der Verhandlungsordnung:

29„Mit Bedacht sind in der Geschäfts- und Verfahrensordnung gewisse Fragen, in denen das kontinentale und das angelsächsische Konzept auseinandergehen, nicht berührt worden; in anderen Fragen sind Kompromisslösungen gefunden worden. Das Ganze erscheint als ein Werk, das, ungeachtet aller technischen Schwierigkeiten, die Voraussetzungen und den Rahmen für ein reibungsloses Verfahren schafft und damit der Dringlichkeit der Rückerstattung Rechnung trägt.“79

30Die Eröffnungsrede von Gerichtspräsident Salén machte deutlich, dass auch das Selbstverständnis der Beteiligten auf dem internationalen Charakter der Institution gründete: Er erklärte, die Zusammensetzung des Gerichts bürge dafür, dass auftretende Rechtsfragen von allen Seiten beleuchtet würden, und trage somit zu einem Höchstmaß an Gerechtigkeit bei.80

Unternehmen vor dem Obersten Rückerstattungsgericht: Zur Wirkung des ORG

31Von den 127.000 Rückerstattungsfällen, die bis Oktober 1952 eingereicht worden waren, betrafen nach Angaben der „New York Times“ 61 Prozent Grundstücke und 25 Prozent geldwerte Vermögenswerte. Nur 11 Prozent aller Anträge bezogen sich auf Unternehmen.81 Dies ist sicherlich auf den hohen Grad an Zerstörung zurückzuführen, der für viele Unternehmer einen Antrag auf Entschädigung statt auf Rückerstattung notwendig machte. Eine Auszählung der ersten 25 Bände gesammelter Urteile des ORG ergab einen Anteil von knapp fünf Prozent Unternehmensfällen. Für diese auch im Vergleich zur Angabe der „New York Times“ ausgesprochen niedrige Zahl bieten sich zwei Erklärungen an: Einerseits wurde die Fallsammlung des Gerichts als Arbeitshilfe für die beteiligten Richter angelegt und enthält Präzedenzfälle. Es ist denkbar, dass Unternehmensfälle sich in geringerem Ausmaß voneinander unterschieden als Grundstücks- oder Vermögensfälle und daher weniger Beispiele von Nöten waren. Andererseits ist anzunehmen, dass viele Unternehmensfälle in einer der unteren Instanzen erfolgreich abgeschlossen wurden. Um die Arbeitsfähigkeit der Betriebe zu gewährleisten, standen insbesondere die Erwerber schließlich unter einigem Zeitdruck, den Besitzer beispielsweise von Grundstücken kaum spürten.

32Auf der Grundlage der rund 1.000 ausgewerteten ORG-Fälle lassen sich aber erste Aussagen zur generellen Haltung des Gerichtes im Umgang mit Rückerstattungsanträgen für Unternehmen treffen. Eine „zunehmend wohlwollende und positive Haltung“ hatte schon der ehemalige Rechtsanwalt Walter Schwarz dem Gericht in seiner Beurteilung attestiert.82 Tatsächlich weisen die Urteile des ORG auf viel Einfühlungsvermögen in die Lebenswelt der Antragsteller hin, wie die folgenden Beispiele zeigen. Im Fall von Bernhard Sperber, Hauptaktionär der Gartenstadt Atlantic AG, interpretierte das Gericht etwa das Konstrukt der „Kollektivverfolgung“ sehr weit und damit im Sinne des Antragstellers: Sperber hatte mehrere Grundstücke im Berliner Bezirk Wedding zwei Bodenkreditgesellschaften zur Verfügung gestellt, die darauf den Vergnügungspalast „Lichtburg“ errichteten. Um eine Zwangsversteigerung weiterer Baublöcke aus seinem Besitz zu verhindern, schloss der Bruder des mittlerweile verstorbenen Bernhard Sperber, Max Sperber, im August 1938 einen Vergleich mit Vertretern der beiden Gesellschaften, woraufhin der streitige Grundbesitz im November 1941 auf diese überging. Während die unteren Wiedergutmachungsinstanzen den Antrag Max Sperbers mit der Begründung zurückgewiesen hatten, dieser sei als ausländischer Jude mit Wohnsitz in Österreich nicht zu den Kollektivverfolgten zu rechnen, entschied das ORG 1957 zugunsten Sperbers. Entscheidend sei nicht die Staatsangehörigkeit des Antragstellers, so die Urteilsbegründung, sondern, dass es sich „im Sinne der Ideen und Gesetze des Nationalsozialismus um eine ‚jüdische’ Gesellschaft“ gehandelt habe.83

33Einen realistischen Einblick in die Lage Ausgegrenzter und Verfolgter im Nationalsozialismus gewährt auch das Urteil im Fall der Fahrzeug Beleuchtung GmbH aus dem Jahr 1956: Anteile des Unternehmens waren im September 1933 vom zuständigen Testamentsvollstrecker gegen den Willen des damals minderjährigen Erben Heinz Kirkpatrick an die AEG und eine private Käuferin veräußert worden. Zuvor war die Firma in einem Schreiben der IHK aufgefordert worden, Angaben zur „rassischen Herkunft“ der Anteilseigner zu machen. Kirkpatrick war nach nationalsozialistischen Maßstäben ein „Mischling 2. Grades“ – d. h., dass zwei seiner Großeltern, nicht aber er selbst einer jüdischen Gemeinde angehört hatten. Strittig war im Prozess, ob der Brief der IHK eine Verfolgungsmaßnahme darstellte, von der er aufgrund dieses Status betroffen war. Im Gegensatz zu den unteren Wiedergutmachungsinstanzen entschied das ORG zugunsten von Kirkpatrick und stufte den Verkauf seiner Anteile als unrechtmäßige Entziehung ein.84 In einem Urteil aus dem Jahr 1954 räumte das Gericht den Status eines von Verfolgungsmaßnahmen Betroffenen sogar einem nicht-jüdischen Unternehmer ein. Erwin Kantelberg hatte im September 1936 von der ehemaligen Besitzerin, Frau Friedländer, eine Apotheke in Reinickendorf erworben und Friedländer einen Monat später geheiratet. Diese, selbst nicht-jüdisch, hatte die Apotheke von ihrem verstorbenen ersten Mann geerbt, der Jude war. Nach dessen Tod hatte sie das Geschäft 1928 von dem jüdischen Apotheker Herbert Götz führen lassen. Ab 1933 war die Apotheke verschiedenen Formen von Stigmatisierung ausgesetzt: Während ein Teil der Kunden sie boykottierte, wurde sie gleichzeitig in der Fachpresse angeprangert und vom Fachverband diskriminiert.85 Kantelberg hatte im jüdischen Krankenhaus gearbeitet und galt daher als politisch unzuverlässig. Mit dieser Begründung wurde ihm im Dezember 1936 die Konzession verweigert und die Pflicht auferlegt, bis Ende Januar einen neuen Pächter zu finden. Im November 1937 verkaufte Kantelberg die Apotheke schließlich. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Frau Friedländer den Verfolgungen der Nationalsozialisten ausgesetzt war und auch der Verkauf an Kantelberg nichts an der Stellung der Apotheke änderte. Die Richter betrachteten den Verkauf angesichts des Druckes, dem Kantelberg ausgesetzt war, als ungerechtfertigte Entziehung und ordneten die Rückerstattung an.86

34Eine Auswertung der Unternehmensfälle, die bis zur Verkündung des Bundesrückerstattungsgesetzes entschieden wurden, zeichnet ein klares Bild von der Auswirkung, die die Einrichtung des ORG auf die Antragsteller hatte: In keinem einzigen Fall änderte das Gericht die von den unteren Instanzen gefällte Entscheidung so um, dass sie sich zu Lasten der Antragsteller auswirkte, während es in zwei Drittel der Fälle Urteile der Wiedergutmachungskammern zu Gunsten der Antragsteller abänderte. Gleichzeitig erwies sich das ORG als besonders lösungsorientiert: Während die unteren West-Berliner Instanzen auf dem Gebiet der BRD die wenigsten Vergleiche herbeiführten, hebt Schwarz die hohe Vergleichsquote des ORG als „Glanzpunkt der Berliner RE-Justiz“ hervor: „Wohl kein anderes oberstes RE-Gericht hat sich so erfolgreich um Vergleiche bemüht“.87

35Zwar hatten die ORGs für die britische und amerikanische Zone in Herford, beziehungsweise Nürnberg, den Ruf, „die große Linie der wiedergutmachungsfreundlichen Rechtssprechung zu halten, nach welcher sich die unteren Instanzen nicht immer willig gerichtet haben“.88 Jedoch wurden diese Instanzen erst zwei Jahre nach dem Berliner ORG gegründet. Außerdem wurde die Entscheidungspraxis auch dieser Gerichte bislang nur grob empirisch analysiert, sodass ein direkter Vergleich (noch) nicht möglich ist.89

36Das Urteil des ehemaligen Anwalts Schwarz geht hinsichtlich der Rolle des Berliner ORG jedenfalls in die richtige Richtung. Die Korrekturwirkung des ORG scheint sogar die – spärlich gesäten – positiven Zuschreibungen in der vom Bundesfinanzministerium herausgegebenen Dokumentation der Wiedergutmachung zu übertreffen. Diese Korrekturwirkung soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch ein positiv beschiedener Antrag auf Rückerstattung von einem nach gegenwärtigen Maßstäben angemessenen oder gar „gerechten“ Ausgang des Verfahrens in den meisten Fällen noch sehr weit entfernt war. Nichtsdestotrotz fällt die Einrichtung des ORG in den Zeitraum für den die Literatur über die Wiedergutmachung ein negatives Bild zeichnet. So sieht der Bochumer Historiker Constantin Goschler in seiner Gesamtdarstellung der „Wiedergutmachung“ mit Verweis auf ein Zitat Franz Böhms ein „bockendes Volk“,90 unwillig, die Verantwortung für Ausgrenzung, Verfolgung und Verbrechen während des Nationalsozialismus zu übernehmen, und einen nur schleppend und verordnet anlaufenden Prozess. Die Wahrnehmung des ORG als eine Institution, in der unter Mitwirkung deutscher Richter individuelle Schuld verhandelt und die Position meist jüdischer Antragsteller gestärkt wurde, kann in diesem Zusammenhang die Sichtweise aufbrechen und den Blick für eine zumindest in Ansätzen vorhandene Heterogenität gesellschaftlicher und administrativer Reaktionen auf die nationalsozialistischen Verbrechen eröffnen.

Ausblick

37Mit dem Bundesrückerstattungsgesetz vom Sommer 1957 kam auf West-Berlin eine zweite überregionale Zuständigkeit zu, denn in dem Gesetz wurde festgelegt, dass auch Verluste durch Entziehungsakte des Reichs außerhalb des Geltungsbereichs des Gesetzes angemeldet werden konnten, wenn die entzogenen Vermögensgegenstände nachweisbar in die Bundesrepublik, nach West- oder auch nach Ost-Berlin gelangt waren. Wenn nicht feststand, wohin die entzogenen Gegenstände gebracht worden waren, sollten die Ansprüche bei den West-Berliner Wiedergutmachungsbehörden angemeldete werden. Da oft unklar war, ob Nachweise über die Verbringung der Vermögensgegenstände in die betreffenden Gebiete erbracht werden konnten, wurden, so Schwarz, „Hunderttausende von Ansprüchen ins Blaue hinein angemeldet“.91 Nachdem bis zum Erlass des Bundesrückerstattungsgesetzes ca. 60 Prozent der Überprüfungsanträge Vermögen betrafen, das von Privatpersonen im Inland entzogen worden war, wurden nunmehr hauptsächlich Anträge bezüglich Entziehungen durch das Deutsche Reich, vor allem im Ausland, gestellt.92 Da vor dem Erlass dieses Gesetzes viele Ansprüche mit der Begründung abgewiesen worden waren, der betreffende Vermögensgegenstand sei „nicht mehr feststellbar“, wurden aber darüber hinaus „Zehntausende“ Anträge ein zweites Mal gestellt. Hierdurch wurde die Statistik ebenso aufgebläht, wie durch die Eigenart der Wiedergutmachungsämter, die Anträge einzelner Geschädigter – nach Art der Ansprüche – in unterschiedliche Verfahren aufzuspalten. Diese Art der Ablage in den Amtsstuben förderte vor allem eins: Die Laufzeit der Verfahren.93

38In Bezug auf die Anzahl von Ansprüchen, die nach dem 19. Juli 1957 unter das Bundesrückerstattungsgesetz (BRüG) fielen, stach West-Berlin heraus. Zwar wurden beinahe 60 Prozent der rund 47.500 bis 30. September 1960 in der Bundesrepublik verkündeten Urteile in West-Berlin gefällt. Die Summe der in West-Berlin in den Beschlüssen festgestellten Vergleichs- oder Rückerstattungsgelder entsprach jedoch nur ca. 45 Prozent der Gesamtsumme. Auf den einzelnen Antragsteller umgerechnet wurden also überdurchschnittlich niedrige Summen bewilligt. Gerade vor dem Hintergrund der vielen großen und bekannten jüdischen Unternehmen in Berlin ist dieses Ergebnis überraschend.94 Parallel zu den bereits skizzierten Verhältnissen in den Entschädigungsverfahren wurden den geschädigten Antragstellern in West-Berlin also deutlich niedrigere Rückerstattungssummen zugesprochen. Bis 1970 verschob sich die Gewichtung und glich sich an das allgemeine Niveau an. Nunmehr kamen ca. 65 Prozent aller Urteile und 60 Prozent der darin zugesprochenen Summen aus West-Berlin.95 Eine andere Besonderheit hatte sich aber verstetigt. Noch immer wurden die Verfahren in West-Berlin sehr langsam abgewickelt, sodass auch Ende 1971, vierzehn Jahre nach der Verkündung des BRüG, knapp fünf Prozent aller Fälle noch immer nicht erledigt waren!96 Erst Ende der 1970-er Jahre war die Rückerstattung in West-Berlin vorerst abgeschlossen – zehn Jahre bevor mit dem Fall der Mauer eine neue Runde dieses Prozesses eingeleitet wurde.

Resümee

39Berlin befand sich nach 1945 in einer politischen Sondersituation, die letztlich auch dazu führte, dass die Rückerstattung im Westteil der Stadt später als im restlichen Bundesgebiet begann. Gleichzeitig war die Anzahl von Anträgen auf Rückerstattung sehr hoch und die Bearbeitung sehr schleppend. Dies war für die betroffenen jüdischen Unternehmer, die häufig in bescheidenen Verhältnissen im Exil lebten und sich den Ämtern oft genug ausgeliefert fühlten, besonders schmerzhaft. Damit nicht genug, waren auch die festgelegten Rückerstattungszahlungen vergleichsweise niedrig. Vor diesem Hintergrund ist die Gründung des ORG nicht zuletzt als Zeichen der Unzufriedenheit der Westalliierten mit der herrschenden Praxis der Rückerstattung zu deuten. Im Hinblick auf die symbolische Bedeutung der Stadt, sollte dem politischen Skandal, den die mangelhaft organisierte und schleppend verlaufende Rückerstattung darstellte, Einhalt geboten werden. Die Schnelligkeit, mit der das Gericht im Vergleich zum Rest der Bundesrepublik eingerichtet wurde, und die Kompromissbereitschaft, die die alliierten Partner beim Aushandeln der Verhandlungsordnung zeigten, sind Zeichen der hohen Priorität, die diesem Thema in den frühen 1950er-Jahren beigemessen wurde.

40Trotz einer gewissen Behäbigkeit funktionierte das ORG letztlich als Korrektiv und fällte auf der gleichen Grundlage wie die Wiedergutmachungsämter und -kammern andere Urteile als diese – regelmäßig zugunsten der Geschädigten. Ganz deutlich nahm das Gericht damit viel Druck aus den Verfahren, was dazu führte, dass wesentlich seltener über Missstände bei der Rückerstattung berichtet wurde. Auch die bereits erwähnte Erweiterung der Rückerstattungsanordnung auf Entziehungen in Ost-Berlin 1954 scheint vom ORG befördert worden zu sein. In den Beschlüssen des ORG wurde – zumindest in den untersuchten Unternehmensfällen – überproportional häufig zugunsten der meist jüdischen Antragsteller entschieden. Obgleich die tatsächlich zugestandenen Leistungen oft genug für die Geschädigten enttäuschend ausfielen und nach heutigen Maßstäben kaum angemessen oder gar gerecht erscheinen, war die Perspektive des Gerichts auf die Situation der Opfer im Kontext der „Wiedergutmachung“ in den 1950er Jahren neu. Die Errichtung des ORG war also nicht nur ein Beispiel erfolgreicher Politik in einem symbolisch stark aufgeladenen Feld, sondern legte praktisch den Grundstein zu einem allmählichen Perspektivwechsel im Rückerstattungsrecht in der Bundesrepublik.

Aufsatz vom 16. April 2013
© 2013 fhi
ISSN: 1860-5605
Erstveröffentlichung
16. April 2013