Zeitschrift Rezensionen

Rezensiert von: Sebastian Felz

Herlinde Pauer-Studer/ Julian Fink (Hg.), Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus in Originaltexten Suhrkamp Taschenbuch W issenschaft 2043, Suhrkamp Verlag , Berlin 2014, 563 S. , IS BN 978-3-518-29643-1, 22,00 EUR .

1I. 1 30 Jahre nach der umfangreichen Quellensammlung von Martin Hirsch, Diemut Majer sowie Jürgen Meinck zu „Recht, Verwaltung und Justiz im Nationalsozialismus“1 und drei Jahre nach dem Erscheinen des Kompendiums über „die Geisteswissenschaften im ‚Dritten Reich‘“2, in dem auch die Rechtswissenschaften aufgenommen worden sind, ist nun eine neue Edition mit Rechtstexten der Jahre 1933 bis 1945 erschienen. Sie wird vorgelegt durch die österreichische Philosophin und Universitätsprofessorin in Wien, Herlinde Pauer-Studer, sowie dem wissenschaftlichen Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Bayreuth, Julian Fink. Das Buch ist hervorgegangen aus einem Programm der Europäischen Kommission und wird gefördert vom „European Research Council“ als „An ERC Advanced Grant Project“ unter dem Titel „Distortions of Normativity“.3

2Während der Band von Hirsch, Majer und Meinck neben zeitgenössischen Schrifttum auch Gesetze, Denkschriften und Gerichtsentscheidungen umfasst, konzentrieren sich Pauer-Stauder und Fink fast ausschließlich auf Auszüge wissenschaftlicher Beiträge aus Federn von Rechtswissenschaftlern, Richtern und Verwaltungsjuristen.4 Die 39 Passagen bzw. Artikel aus 31 Werken sind in sechs Kapiteln unterteilt, die chronologisch aufeinander aufbauen und sich in weitere Unterkapitel auffächern. Zunächst geht es um die „Grundsätze des NS-Rechts“ sowie „Recht, Gesetz und ‚Sittlichkeit‘“, also um die „Moralisierung des Rechts im Nationalsozialismus“. Dann wird der „Übergang zum nationalsozialistischen Staat“ dargestellt. Hier werden dann in den drei folgenden Kapiteln „Staat, Verfassung und Gemeinschaft“, „Die Gesetzgebung der Judenverfolgung“ und schließlich „Strafrecht, Polizeirecht und Rechtsprechung im Führerstaat“ behandelt. Den Quellen wurde ein technisches Vorwort sowie eine 120 Seiten lange Einleitung von Herlinde Pauer-Studer voran gestellt.

32. In ihrem Vorwort beschreibt die Herausgeberin ihre Motivation, die sie zur Herausgabe und Kommentierung der Texte bewogen habe.

4Sie wolle aus „dem Blickwinkel der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie“ durch eine Analyse der normativen Grundlagen des NS-Regimes die Frage, wie das „Dritte Reich“ möglich war, beantworten. Die ausgewählten Texte aus der Zeit der „erhebliche[n] innere[n] Stabilität“ der Vorkriegsjahre, welche allerdings von einem „massiven und teils von offener Gewalt begleiteten politische[n] und normative[n] Umbau“ gekennzeichnet waren, zeigen, dass alle Verbrechen zwischen 1933 und 1945 „eine gesetzliche Basis“ hatten und „theoretisch vorbereitet“ worden waren. Nur einige Textbeispiele stammen aus der Zeit von 1940 bis 1943, dem Zeitraum, so die Herausgeberin, „der durch den Vernichtungskrieg im Osten ausgelösten zunehmenden normativen Entgrenzung“ gekennzeichnet gewesen sei (S. 9; die Seitenzahlen in Klammern verweisen auf das Vorwort des Bandes).

5Pauer-Stauder ist der Auffassung, dass die ausgewählten Originalbeiträge einer „breiteren Öffentlichkeit“ kaum bekannt seien. Außerdem seien sie „im wissenschaftlichen Diskurs von Rechtsphilosophie und Politischer Philosophie“ weitgehend „unbeachtet“ geblieben (S. 9 f.).

6In Bezug auf die Auswahlkriterien der Verfasser wird ausgeführt, dass sich mit Wilhelm Stuckart, Roland Freisler, Werner Best oder Hans Frank hochrangige Vertreter des NS-Staates und der NSDAP in die Sammlung aufgenommen worden seien. Des Weiteren umfasse die Autorenliste eine Reihe „von ehrgeizigen, karrierebedachten Akademikern und Nachwuchskräften“, namentlich Reinhard Höhn, Ernst Rudolf Huber, Ernst Forsthoff oder Otto Koellreutter. Vertreten seien sowohl Autoren, die „nur in der Frühphase des ‚Dritten Reiches‘ (1933-1935) ein Buch oder eine Dissertation veröffentlichten und sich dann auf politisch unverfänglichere juristische Arbeitsgebiete und Sachfragen zurückzogen, [als] auch Juristen, die Führungspositionen im NS-Staat bekleideten und teils sogar in die Verbrechen des NS-Regimes verwickelt waren“ (S. 10).

7Die Publikationen zeichnen sich sowohl durch „emphatische Bejahung des Nationalsozialismus“ als auch durch den „politisch letztlich naiven Versuch [aus], den NS-Staat normativ zu zügeln und den Auswüchsen des SA- und SS-Terrors Grenzen zu setzen“. Nicht alle Juristen, deren Texte aufgenommen worden seien, so weiß Pauer-Studer, seien dem „Regime fanatisch ergeben“ gewesen: „Vielfach erlagen die Juristen einer krassen Fehleinschätzung hinsichtlich ihrer Einflusskraft, indem sie glaubten, im NS-Regime das politische Instrument gefunden zu haben, um ihre Ideen von einem starken Staat mit autoritären Zügen verwirklichen und umsetzen zu können“. Übersehen worden sei von vielen Juristen der „unbedingte Machtwille Hitlers, der keineswegs bereit war, sich normativen und gesetzlichen Beschränkungen seiner Autorität zu fügen“ (S. 10). Alle abgedruckten Autoren würden vereint in ihrer Missachtung der Demokratie und der Weimarer Republik.

8Insgesamt neun Texte, die mit ihren bibliographischen Angaben aufgeführt werden, konnten aus urheberrechtlichen Gründen nicht aufgenommen werden. Dazu gehören beispielsweise zwei Texte des Kieler Strafrechtlers Georg Dahm, des Marburger NS-Polizeirechtsexperten Walter Hamel oder des in Königsberg, später in Münster, lehrenden Strafrechtlers Wilhelm Sauer5 (S. 11 f.).

9Des Weiteren informieren die Herausgeber den Leser darüber, dass sich alle Texte in der Österreichischen Nationalbibliothek bzw. der Wiener Universitätsbibliothek befinden und, so die Vermutung der beiden Editoren, wohl nach dem „Anschluss“ Österreichs an das „Dritte Reich“ nachgekauft worden seien.

10Die Sammlung der Quellentexte wird durch Textnachweise, Autorenangaben sowie ein Namen- und Sachregister abgeschlossen.

11Die Edition ist von der Kritik größtenteils positiv aufgenommen und sogar als „Buch des Monats“ ausgezeichnet worden.6

123. Zu den Motivationen, Vorannahmen und Prämissen dieser Edition sind einige Anmerkungen anzubringen.

13Es mag sein, dass die in diesem Sammelband vereinigte Literatur, soweit sie vor 1938 erschienen ist, nach dem „Anschluss“ erworben worden ist. Unwillkürlich denkt man aber an den österreichischen „Opfermythos“, wenn die Herausgeber mutmaßen, dass die ‚bösen Bücher‘ erst im Frühjahr 1938 nach Wien gekommen seien.

14Denn an Antisemitismus und an autoritären Staatsvorstellungen hat es einem Teil der Österreichischen bzw.Wiener Juristen – sowohl vor als auch hinter dem Katheder – in der Zeit vor dem Frühjahr 1938 sicherlich nicht gemangelt, wie die geplante antisemitische Wiener Studentenordnung von 1930, die Jagd auf jüdische Studierende und Teilnahme am Juli-Putsch 1934 sowie Übernahme von Lehrstühlen im „Dritten Reich“ durch Akademiker aus Wien beweisen.7

15Fraglich ist auch die Einschätzung, dass das „Dritte Reich“ in seiner ersten Hälfte von einer „erhebliche[n] innere[n] Stabilität“ geprägt gewesen sei. Ganz im Gegenteil war die sechs Jahre währende „Friedenszeit“ der Hitlerregierung eine Epoche der Dynamik und Mobilisierung ohne gleichen, so dass der Akzent eher auf die Legitimation des „massiven und teils von offener Gewalt begleiteten politische[n] und normative[n] Umbau[s]“ zu setzen wäre. Die mit äußerster Brutalität durchgeführte Stabilisierung der Diktatur bis zum Sommer 1934, die „Säuberungen“ in der Beamtenschaft, bei den Richtern und Anwälten sowie den Künstlern, Wissenschaftlern und Intellektuellen, die völlige Umschichtung des gesamten Sozialprodukts in Richtung Aufrüstung, mehr als 1.400 antisemitische Verordnungen bis 1939, das Novemberpogrom 1938 und über 290.000 Sterilisationen aufgrund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ bis Kriegsbeginn8 sowie außenpolitisch das Konkordat, der Austritt aus dem Völkerbund, die Saarabstimmung, die Rheinlandbesetzung, die Annexion Österreichs, die Zerschlagung der Tschechoslowakei und schließlich der Einmarsch ins Memelgebiet beweisen die rasante Dynamik der 1930er-Jahre in Deutschland.

16Diese Dynamik hat natürlich auch Einfluss auf die Bewertung der auszuwählenden Texte. Die Texte der Jahre 1933/1934 sind die „Phantasiestücke“ der nationalsozialistischen „Rechtserneuerung“9 bezeichnet worden. Während die Texte der späteren Jahre sowohl als Versuch einer Bestandsaufnahme der Rechtsentwicklung gelesen werden können, aber auch als weitere Projektionen der zukünftigen Rechtsentwicklung und Ideenlieferungen für die Machthaber eingestuft werden können. Sicherlich ist es richtig, dass eine „normative Begrenzung“ des hoch dynamischen und totalen Führerstaates unmöglich war; aber war eine solche Limitierung überhaupt intendiert? Und wie viele Ideen wurden den Machthabern durch die Juristen in Wissenschaft, Verwaltung und rechtsprechender Praxis „vorgedacht“?

17Man muss Susanne Heim und Götz Aly in ihrer Begrifflichkeit der „Vordenker der Vernichtung“ nicht folgen10, doch ist die Aussage Pauer-Studers zu pauschal, wenn sie schreibt:

18„Die theoretischen Schriften der Juristen sind keine Rechtfertigung der Massenvernichtung. Welche schier die menschliche Vorstellungskraft überschreitende Konsequenzen die NS-Rassenideologie haben würde, war in den Jahren vor dem Krieg nicht vorhersehbar. Doch Juristen sollten wissen, was auf dem Spiel stehen kann, wenn bürgerliche Rechte aberkannt werden. Wenn Koellreutter 1938 und Ernst Rudolf Huber 1939 die Nürnberger Gesetze ohne Zögern unter den die Verfassung des ‚Dritten Reiches‘ bildenden Verfassungsgesetzen aufzählen, segnen sie als Rechtstheoretiker die Ausgrenzung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ab. Statt kritisch die Stimme erheben und Recht und Gerechtigkeit einzumahnen, liefern die Juristen die normative Bestätigung der gesetzlichen Umsetzung des Rassenwahns des NS-Regimes“ (S. 79 f.).

19 Bernd Rüthers betonte den „großen Einfluss“, den Literatur und Rechtsprechung auf die „Rechtsentwicklung im Nationalsozialismus“ gehabt haben.11 Die Mitwirkung der akademischen Juristen beispielsweise an der Neuordnung der „ethnographischen Verhältnisse“ (A. Hitler) in Osteuropa können in den Protokollen des Nationalitätenrechtsausschusses der „Akademie für deutsches Recht“ nachgelesen werden.12

20Die Auffassung der Editoren, dass die Texte der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt seien (S. 9), kann ebenso nicht gefolgt werden. „Der Führer schützt das Recht“ von Carl Schmitt ist schon fast ein „ikonischer“ Text13 und findet sich seit 1957 in jeder der unzähligen Ausgaben von Walter Hofers Einführung in den Nationalsozialismus.14 Ähnlich verhält es sich mit den Texten von Forsthoff, Huber oder Koellreutter, die in deutschen Schulbüchern abgedruckt sind.15 Carl Schmitts „Neue Leitsätze für die Rechtspraxis“ oder Werner Bests Artikel über „Die Geheime Staatspolizei“ finden sich schon bei Hirsch, Majer und Meinck.

21Ebenfalls nicht beigetreten kann dem vermeintlichen Befund, dass die „philosophisch-theoretische Analyse der normativen Grundlagen ein bislang vernachlässigtes Gebiet der Forschung“ (S. 9) gewesen sei (Hervorhebung im Original, Anm. S. F.). Zu nennen wären hier, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, die Arbeiten von Joachim Gernhuber16, der Nachweis der hegelianischen Topoi auf die NS-Rechtstheorie in den Werken von Bernd Rüthers17, das Buch von Hubert Kiesewetter18, die stupende Analyse der Begriffsgeschichte des „gesunden Volksempfindens“ von Joachim Rückert19, zuletzt die Interpretation des „radikalen Ordnungsdenkens“ von Frieder Günther20 oder das Kapitel „Der Faschismus als transpolitisches Phänomen“ von Ernst Nolte in seiner Deutung des Nationalsozialismus21. Außerdem beschränkt sich die „philosophisch-theoretische“ Analyse auf die nationalsozialistische Aneignung der ‚großen‘ Philosophen wie Kant oder Hegel. Die Obskuranten und Sektierer interessieren Pauer-Studer überhaupt nicht.22

22Die Autorenhinweise über die Verfasser der zusammengestellten Texte sind sehr ‚schlank‘ gehalten und folgen keinem systematischen Aufbau. Alle Biogramme beginnen zwar mit Namen und Lebensdaten, bringen dann aber an dritter Stelle meist (recht allgemein) den Beruf („Jurist“) oder das Eintrittsdatum in die NSDAP oder (bei Ernst Rudolf Huber und Ernst Forsthoff) das Schülerverhältnis zu Carl Schmitt. Wenn als erster Autor beispielsweise Erich Becker vorgestellt wird, dann muss sich der Leser mit den Informationen begnügen, dass sich Becker ab 1933 für den Nationalsozialismus engagiert hat und ab 1941 als Ordinarius an der Reichsuniversität Posen tätig war. Für die Einordnung seiner Person wäre sicherlich auch von Interesse gewesen, dass Becker nach dem Krieg in Speyer an der neu gegründeten „Staatlichen Akademie für Verwaltungswissenschaften“ weiter lehrte und forschte sowie für Jahrzehnte die bundesrepublikanische Referendarsausbildung beeinflusste.23

23Etwas kurios ist die Kommentierung der Herausgeber zu Roland Freislers Artikel „Willensstrafrecht; Versuch und Vollendung“ aus dem Bericht der Strafrechtskommission von 1935. Dort zitiert Freisler in seiner dritten Fußnote (hier: S. 470) einen Aufsatz von Georg Dahm, nämlich: „Georg Dahm, Deutsches Strafrecht, 1934, S. 95“. Die Ermittlung der vollständigen Bibliographie für den Text von Dahm gelang den Herausgebern scheinbar nicht. Sie schreiben: „Es konnte nicht geklärt werden, auf welche Publikation Dahms sich Freisler hier genau bezieht“. Dabei kennen die Herausgeber den Text sehr gut. Es handelt sich nämlich um die Publikation „Georg Dahm, Das Ermessen des Richters im nationalsozialistischen Strafrecht“ in der Zeitschrift „Deutsches Strafrecht“. Ein Artikel, der sich unter den auf S. 11 f. aufgezählten Publikationen befindet, die aus Urhebergründen nicht in die Sammlung aufgenommen worden sind.

24Manchmal nehmen die Originaltexte Ereignisse auf, die zu annotieren gewesen wären. So bezieht sich der Text von Hans Franzen „Gesetz und Richter“ auf die Auseinandersetzung des münsterschen Bischofs von Galen mit Arthur Rosenberg (S. 374). Galen protestierte damals heftig gegen einen Redeauftritt des NS-Ideologen im katholischen Münster wegen dessen antichristlicher Einstellung.24 Oder Franzen spielt auf die „Taktlosigkeiten einiger Heidelberger Sachsen-Preußen“ an, eine Affäre, in der korporierte Studenten über Tischsitten Hitlers spekuliert hatten. Dieser vermeintliche Skandal führte daraufhin zur verstärkten Bemühungen der Partei um die Gleichschaltung der Studentenvereinigungen.25

25II. 1. Ihre Einleitung „Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus“ beginnt die Herausgeberin mit der verfassungsrechtlichen Umgestaltung des „Kabinetts der nationalen Konzentration“ durch die „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 1933 und das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24.März 1933. Die Ausführungen lesen sich in ihrer Schwarz-Weiß-Schematik und ihrer strengen Trennung zwischen dem „demokratischen System der Weimarer Republik“ und dem „autoritären Führerstaat“ (S. 18) als Paradebeispiel jener ahistorischen „Verinselung“ des „Dritten Reiches“, vor der Martin Broszat gewarnt hat.26 Für den Terminus „Rechtsdenken im Nationalsozialismus“ gelten ebenfalls die Bedenken der „Begriffsunschärfe“, die Michael Stolleis für die Beantwortung der Definition der „Rechtsordnung des NS-Staates“ aufgeworfen hat.27 Ebenfalls fehlt eine definitorische Auseinandersetzung mit den Begriffen „Recht“ und „Gesetz“.28

26Zwar wird weder eine definitorische Annäherung an die Klärung der Begriffe „Nationalsozialismus“ oder „nationalsozialistisches Recht“ versucht, allerdings kann aus der Aufzählung von charakteristischen Elementen der NS-Rechtsordnung von Pauer-Studer folgende Definition gegeben werden: Ablehnung von Demokratie, Gewaltentrennung, Liberalismus, subjektiven Rechten und Rechtsstaat zugunsten eines rassistischen und totalen Regimes, das auf dem Führer- und Volksgemeinschaftsprinzip beruhte, seine Macht durch die Verschärfung des Polizei- und Strafrechts sicherte und behauptete, Recht und Sittlichkeit amalgiert zu haben. Dazu seien die „klassischen Philosophen wie Rousseau, Kant, Fichte und Hegel“ zu ideologischen Zwecken umgedeutet worden (S. 18 f.).

27Der Nationalsozialismus war aber auch – dies sei hier eingeschoben – durch einen scharfen Antimarxismus und einen aggressiven Imperialismus gekennzeichnet. Es ist daher m. E. unverzichtbar, in eine solche Anthologie die nationalsozialistischen Rechtslehren Texte in Bezug auf das Arbeits- sowie das Völkerrecht aufzunehmen. Gerade in der Transformation des Völkerrechts in die Theoreme des Volksgruppen- und Nationalitätenrechts zeigen sich die Antinomien wie die aggressive Dynamik des NS-Rechts.29 Wenn die Editorin behauptet, dass die „NS-Theoretiker“ die politische Philosophie und Rechtsphilosophie Kants „im Großen und Ganzen umgehen“ (S. 125), so beweisen jedenfalls die Textbeispiele des Bandes diese These nicht in Gänze, denn Hegel wird zehnmal laut Namensverzeichnis zitiert, während Kant sechsmal in den Quellen Erwähnung findet.

28Im zweiten Kapitel wendet sich die Herausgeberin der „Moralisierung des Rechts im Nationalsozialismus“ zu. In einem kurzen Rückgriff auf die Radbruch´sche These von der Wehrlosigkeit der Juristen gegenüber dem NS-Unrecht durch deren vermeintlich positivistische Einstellung widerlegt Pauer-Studer diesen „Gründungsmythos“ der juristischen Wissenschaftsgemeinschaft der Nachkriegszeit.30 Eigentlich ist die Positivismuslegende ein „toter Hund“, so sollte man meinen, aber diese Mär wird auch weiterhin verbreitet, sogar in Form einer „App“ für die Studentengeneration 2.031 oder als Wiederabdruck von Aufsätzen aus den späten 1940er-Jahren im Jahre 2014. „Konsequent antipositivistisch“ hätten die NS-Juristen die „Synthese von Recht und Sittlichkeit“ gefordert (S. 21), um den Freiheitsraum des Einzelnen zugunsten der Gemeinschaftsideologie der „Volksgemeinschaft“ zu beschränken. Dazu gehörte ebenfalls die Ablehnung der „Reinen Rechtslehre“ Kelsens, die Karl Larenz als „eine Erscheinungsform der geistigen Überfremdung“ diffamiert. Die Erläuterung der Herausgeberin, dass sich Larenz mit dem Stigma der „geistigen Überfremdung“ darauf bezogen habe, dass Kelsen „Österreicher“ und „Jude“ gewesen sei (S. 21), ist ein wenig possierlich. In seinem sonst recht expliziten Werk hätte Larenz seine Abneigung (auch) gegen Österreicher dann doch gut versteckt.32

29Im dritten Kapitel wird die „Überwindung“ der liberalen Weimarer Republik durch eine auf dem „Frontkämpfertum“ geprägte Gemeinschaft und die pseudolegale nationalsozialistische Revolution beschrieben.

30Der neuen Konzeption des Staates im „Dritten Reich“, seiner „Verfassung“ und seiner Regierung durch den „Führer“ geht Pauer-Studer im vierten Kapitel nach. Abschaffung der Gewaltentrennung und des subjektiven öffentlichen Rechts, die ersetzt werden durch die totale Gewalt des „Führers“ und ein Pflichtenprogramm innerhalb der Volksgemeinschaft. Aus dem abstrakt-allgemeinen Gesetz wird der willkürliche Wille des „Führers“ im „totalen“ Staat der NSDAP. Die Reinterpretationen und normativen Verschiebung werden am Terminus der „Verfassung“ seziert.

31Das Sonderrecht für die jüdische Bevölkerung beleuchtet die Herausgeberin im fünften Kapitel und konzentriert sich vor allem auf die so genannten Nürnberger Gesetze.33

32Schließlich wird im sechsten Kapitel die Transformation des Tatstrafrechts zum Täterstrafrecht, die Machtkonzentration und Kompetenzballung der politischen Polizei sowie dem nationalsozialistischen Richterbild analysiert. Konzise werden die Verschiebungen zum Willens- und Gesinnungsstrafrecht, die Wiedereinführung der Ehrenstrafe sowie Aufhebung des Analogieverbotes beschrieben, während die Biologisierung des Strafrechts vernachlässigt wird.34 Wieder wird allerdings die politische Wetterscheide 1933 als eine Grenze in der wissenschaftlichen Diskussion gezogen, und damit die langfristigen Diskussionszusammenhänge zu Unrecht getrennt.35

33In den letzten beiden Kapiteln inspiziert Pauer-Studer die „philosophischen Grundlagen“ des NS-Staates als „unvernünftige umfassende moralische und politische Lehre“ in Anlehnung an John Rawls. Die Grundannahmen des Nationalsozialismus waren „unantastbar“ und „nicht hinterfragbar“, die eine umfassende moralische und politische Doktrin trugen, mit der das gesamte Leben der vom NS-Regime regierten Menschen erfasst werden sollte, was unter anderem durch eine pervertierte Aneignung der Ideen Rousseaus, Hegels und Kants geschehen sei. Pauer-Studer spricht sich dezidiert als Lehre aus dem NS-Rechtssystem für eine scharfe Trennung von Moral und Recht aus, aber sie muss auch konzedieren:

34„Was folgt aus dem Umstand, dass die NS-Theoretiker die Vereinheitlichung von Recht und Moral bejahen? Eine mögliche Antwort lautet: nichts weiter Aufregendes außer der Einsicht, dass die NS-Theoretiker die falsche, nämlich eine ideologisch pervertierte Moral hatten. Anders gesagt: Wenn wir dem Programm einer umfassenden Ethisierung des Rechts die ‚richtige‘, also die ‚wahre Moral‘ unterlegen, sind wir vor unzulässigen politischen Instrumentalisierung der Moral gefeit“ (S. 132).

35Leider hätten die Gesellschaften aber meist nicht die „‚wahre Moral‘“ im Blick, welche die Moralphilosophie „unhinterfragt und anmaßend“ als die „wahre Moral“ ausgebe, „die a priori klar über die Vernunft erkennbar und einsichtig“ sei (Hervorhebung im Original, S. F.). Also rückt Pauer-Studer von der Moral („ein leicht verformbarer Standard“) als Lackmustest ab und dekretiert stattdessen normative Bedingungen für ein Rechtssystem, nämlich „Öffentlichkeit, Transparenz, Verstehbarkeit, Verlässlichkeit, Berechenbarkeit, Konsistenz und Kohärenz sowie Vermeidung von Willkür und sachlich unbegründeter rückwirkender Gesetzgebung“ (S. 134).

362. Diese Kriterien einer offenen Gesellschaft haben die NS-Rechtstheoretiker ausgehebelt. Die Legitimationsklauseln der NS-Rechtsordnung und die Einbruchstellen der ‚Rechtsverzerrung‘ wie „Notstandsrecht der Nation“ (Hans Frank), „Widerstandsrecht des Volkes“ (Ernst Forsthoff), „Staatsnotrecht“ (Ernst Rudolf Huber), „Recht zum Widerstand“ (Ulrich Scheuner), „Staatsnotwehr“ (Carl Schmitt) oder die „Lösung der Judenfrage […] als ein Gebot der völkischen Selbsterhaltung und Notwehr“ (Wilhelm Stuckart und Rudolf Schiedermair), die „konkrete Ordnung“ oder „völkischen Rechtsgeschichte“ (Karl Larenz) und die „Auslegung nach nationalsozialistischer Weltanschauung“ (Reinhard Höhn) können zwar im Quellenteil dieser Edition nachgelesen werden, sie sind aber in der Interpretation nicht hinreichend berücksichtigt worden. Diese argumentativen Hebel unterminierten die „Legalität [in] ihrer Funktion als Waffe zum Schutz des Individuums“. Die Legalität werde pervertiert in eine „technische Rationalität“ des Rechts als reine Machtausübung mit moralischer Verbrämung. Richtig beschrieb dies Otto Kircheimer 1941 im amerikanischen Exil:

37„Das System der technischen Rationalität als Basis von Recht und Rechtspraxis hat jedwedes System zur Erhaltung individueller Rechte verdrängt und Recht und Rechtspraxis zum Instrument erbarmungsloser Herrschaft und Unterdrückung werden lassen, die an den wichtigsten Hebeln wirtschaftlicher und politischer Macht sitzen. Nirgendwo ist der Entfremdungsprozess zwischen Recht und Moral so fortgeschritten wie gerade in der Gesellschaft, die angeblich die Integration dieser Bereiche bewirkt hat“.36

38Im anzuzeigenden Band bleiben die Fragen nach den Techniken der juristischen Effektuierung der „falschen Moral“ durch das ‚Recht‘ des ‚Dritten Reiches‘ und deren historischen und philosophischen Prämissen leider teilweise offen.

Rezension vom 25. März 2015
© 2015 fhi
ISSN: 1860-5605
Erstveröffentlichung
25. März 2015

  • Zitiervorschlag Rezensiert von: Sebastian Felz , Herlinde Pauer-Studer/ Julian Fink (Hg.), Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus in Originaltexten (25. März 2015), in forum historiae iuris, https://forhistiur.net/2015-03-felz/