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Gerhard Thür*

Justinians Institutionen als Lehrbuch - ein Experiment

I.

Wollte man europaweit in der Juristenausbildung für das römische Recht Bilanz ziehen, fiele sie nicht günstig aus. Dem Erstarken in den Reformstaaten — vergleichbar mit dem Aufatmen nach dem Nationalsozialismus — stehen Desinteresse bis Ablehnung in den meisten Ländern der Europäischen Union gegenüber. Der Trend zum „Nützlichen“, zur „Entrümpelung“ hat sich in den letzten 25 Jahren verstärkt. Doch gibt es auch gegenläufige Tendenzen. Allenthalben sprießen ehrgeizige Unternehmen, Justinians „Corpus Iuris Civilis“ in moderne Sprachen zu übersetzen1). Hoffentlich — muß man sogleich hinzufügen — hinken die Übersetzungen den derzeit laufenden Studienreformen nicht allzusehr nach. Wie dem auch sei, Anfänge sind gemacht. Anfänge, die es vielleicht rechtfertigen, allgemeine Gedanken zu einer Neuorientierung des akademischen Rechtsunterrichts zu äußern. 1
Heute ist das juristische Studium in allen europäischen Staaten noch vorwiegend auf die positiven nationalen Rechtordnungen ausgerichtet, und zwar in solch hohem Ausmaß, daß man ernsthafte Erwägungen anstellt, die Juristenausbildung von den Universitäten weg an Fachhochschulen zu verlagern. Vielleicht würden diese den heute landläufig gestellten Aufgaben sogar besser gerecht: Der Jurist solle in seinem Studium möglichst alle Vorschriften erlernen, die er später einmal anwenden müsse. Ein derart primitives, allein praxisbezogenes Konzept wird schon durch den oberflächlichen Einwand widerlegt, ein großer Teil der mühsam erlernten Vorschriften werde längst nicht mehr in Geltung stehen, wenn der junge Jurist seine praktische Tätigkeit beginne. Akademische Juristenausbildung setzt dem gegenüber die Einheit von Forschung und Lehre voraus. Nur die von wissenschaftlichem Ethos getragene Forschung eröffnet den Blick auf die hinter der positiven Norm liegenden gesellschaftlichen Werte und erlaubt es, diese selbst mit zu gestalten. Das gilt für alle Fächer des geltenden Rechts. Auch das speziellste Teilgebiet wird an der Universität idealiter mit dem Blick auf das Ganze gelehrt. Eingeleitet und begleitet wird das Studium der Rechte traditionell von „Grundlagenfächern“. Sie sollen die historische, philosophische, soziologische und ökonomische Dimension des Rechts eröffnen und in die Methoden der Rechtsanwendung einführen. Man könnte darüber nachdenken, ob nicht auch diese Grundlagen idealiter in die Teilgebiete des geltenden Rechts zu integrieren wären; doch sollte man im Interesse der persönlichen Forschungsschwerpunkte der Universitätslehrer und der zu bietenden Meinungsvielfalt an der bisher gepflegten Spezialisierung festhalten. 2
Ein zeitgemäßes Erfordernis der modernen Juristenausbildung ist es, Rechtsinformatik und die Ausbildung in einer oder mehreren Fremdsprachen mit einzubeziehen. Mit dem letzten ist bereits die größte Herausforderung einer Studienreform angesprochen, die zunehmende inter- und supranationale Verflechtung sämtlicher juristischer Lebenssachverhalte und die Freizügigkeit des Juristen im europäischen Raum. Es liegt auf der Hand, daß den internationalen Fächern nunmehr verstärktes Gewicht zukommen soll, sowohl dem seit Jahrhunderten wissenschaftlich geformten Völkerrecht als auch dem Neuling „Europarecht“, in dessen wild wachsendes Dickicht ein dogmatisch-didaktisches Gerüst erst einzuziehen ist. Doch sollte der Student auch mit den charakteristischen materiellen Bestimmungen der übrigen europäischen Rechtsordnungen einschließlich deren kollisionsrechtlichen Normen vertraut gemacht werden — das alles in kürzer und effektiver gestalteter Studienzeit. 3
Weder die soeben skizzierten Ziele noch deren Verwirklichung können hier ausführlich diskutiert werden. Fest steht jedenfalls, daß die europäischen Staaten von einer einheitlichen Rechtsordnung — und sei es auch nur auf dem Gebiet des Privatrechts — „noch“ meilenweit entfernt sind. Es möge dahingestellt bleiben, ob eine solche überhaupt anzustreben ist. Ein Potential gilt es jedoch sofort zu nutzen: eine international aufeinander abgestimmte Juristenausbildung. Es möge die Sorge der nächsten Generation sein, ob und allenfalls in welcher Gestalt eine gemeinsame Rechtsordnung zu verwirklichen sein wird. Stets gingen die Impulse, Recht zu systematisieren oder zu kodifizieren, von den Gelehrten der Rechtsfakultäten aus. Der „Gesetzgeber“ wird immer erst später, reaktiv tätig. Der erste Schritt ist auch heute von den Universitäten zu tun. 4
Im Kanon der in Europa gelehrten Rechtsfächer ist eines geradezu prädestiniert, für die koordinierte Juristenausbildung die Rolle eines Antezessor zu übernehmen: das Römische Recht. Es bedarf dazu keiner langwierigen Studienreformen, keiner Fakultätsbeschlüsse, keiner gesetzlichen Maßnahmen, sondern lediglich des consensus virorum iuris peritorum et antecessorum, wie Justinian die akademischen Lehrer dieses Faches in der Überschrift seiner Institutionen bezeichnet. 5
Nun wäre es ein hoffnungsloses Unterfangen, einer Gruppe von Gelehrten, deren jeder seine Individualität pflegt und hervorkehrt, bestimmte Lehrinhalte und -methoden ihres Faches nahezulegen. Angebracht ist jedoch vielleicht der Hinweis auf eine Primärquelle des römischen Rechts, die ursprünglich sogar als Lehrbuch konzipiert war — als vorzügliches, wie es sich auch heute noch erweist — und diesen Zweck jahrhundertelang bestens erfüllt hat: Justinians Institutionen. Wie immer man das römische Recht heute wissenschaftlich betreibt (und auch im Unterricht nahezubringen versucht) — antik-rechtsvergleichend, systematisch-dogmatisch, kasuistisch auf individuelle Juristenmeinungen abstellend, methodologisch, dogmatisch entwicklungsgeschichtlich auf das Ius Commune und die europäischen Rechtordnungen hin betrachtet — für den Unterricht wäre als Ausgangspunkt eine gemeinsame Quellenbasis, sozusagen als kleinster gemeinsamer Nenner, wünschenswert. Kann man nicht von einem besonderen Glücksfall sprechen, wenn diese Quelle neben allen noch hervorzuhebenden didaktischen Vorzügen in der europäischen Rechtsentwicklung eine beispiellose Wirkungsgeschichte entfaltet hat2)? 6

II.

Als mir im Sommer 1993 Rolf Knütel, einer der an der deutschen Übersetzung des Corpus Iuris Civilis beteiligten antecessores, die Taschenbuchausgabe der Institutionen (UTB 1764) zusandte, maß ich dem Büchlein nur geringe Bedeutung bei. Im Wintersemester 1993/94 hielt ich die in Graz mit drei Stunden pro Woche dotierte Hauptvorlesung Römisches Privatrecht I (Personen-, Familien- und Sachenrecht) in Anlehnung an das bewährte Lehrbuch Max Kasers, das für Erstsemestrige allerdings entsprechend aufzulockern ist. Zur Illustration verteilte ich einige Blätter mit Quellen: Ulp. 46 ed. D. 50, 16, 195 (zu familia), P.Teb. I 104 (Ehevertrag), Gai. inst. 2,1-14.18-22.28.38 (res incorporalis; zu §§ 291f. ABGB, 90 dBGB und der Entwicklung der europäischen Privatrechtssysteme). Die zweistündige Ergänzungsvorlesung (Rechtsgeschichte, Prozeß) des folgenden Wintersemesters begann ich bereits mit der zweisprachigen Ausgabe der const. Imperatoriam. Sie leitete plakativ und knapp das erste Kapitel dieser Vorlesung ein, das der justinianischen Kodifikation und dem Nachleben des römischen Rechts gewidmet war. Dabei reifte der Entschluß, die nächste Hauptvorlesung aus Personen-, Familien- und Sachenrecht anhand des gediegenden und wohlfeilen Institutionenbändchens zu halten. Das führte ich in den Wintersemestern 1995/96 und 1997/98 aus; im Sommersemester 1996 las ich die zweistündige Ergänzungsvorlesung „Römisches Erbrecht“ ebenfalls aus Justinians Institutionen, gegenwärtig, im Sommersemester 1998, Allgemeine Lehren und Schuldrecht (wieder dreistündig). Einen wesentlichen Vorteil dieses Konzepts sehe ich darin, daß die Studenten eine in sich abgeschlossene Quelle lateinisch und deutsch als „Textbuch“ in Händen haben und vielleicht auch später noch konsultieren. Nicht zu verschweigen ist freilich, daß manche Zusammenhänge nicht ohne ein modernes Lehrbuch des römischen Privatrechts herzustellen sind. Auf die entsprechenden Abschnitte verweise ich in der Vorlesung, wobei ich jedoch stets den Vorrang der Quelle betone. 7
Folgen wir also der Vorlesung, die im ersten Semester kontinuierlich bis Inst. 2,9 samt dem Anhang 4,15 gedeihen soll. Erstaunlich ist die Wirkung der const. Imperatoriam auf die cupida legum iuventus, die sich in der ersten Woche des Semesters im Hörsaal schart. Schnell schlüpfen die Hörer in die ihnen von Justinian zugeteilte Rolle. Der Vortragende hat zwei Aufgaben zu erfüllen: die Botschaft Justinians zu vermitteln und gleichzeitig kritisch ihren damaligen und heutigen Wert zu prüfen. Einige Stichworte mögen genügen: Hinter der Herrscherrhetorik von pr. und § 1 steht der einfache Gedanke, Recht ist die Ordnung des Friedens (der Balkan ist gefährlich nahe — nicht nur in Graz); § 2 fügt dem hinzu, daß der hier gebotene Rechtsstoff in einem Jahrhunderte währenden Prozeß aus verschiedenen Quellen entstanden ist (Sachwissen : leges und ius). In § 3 klingen die Schalmeien jeder Studienreform an: nihil inutile! (Vorsicht vor solchen Versprechungen3)!) Anhand der §§ 4 und 6 läßt sich die Stellung von Institutionenwerken innerhalb der klassischen und justinianischen Rechtsliteratur besprechen, zu § 5 die Gestalt des Reformers im Kleid des Konservativen. Erstaunen erregt die Konzeption des „Lehrbuchs mit Gesetzeskraft“ (§§ 3 und 6); voll Verständnis wird in § 7 spes ... gubernare gelesen; jeder strebt schließlich nach einem Posten und Anerkennung. Die Rhetorik der Einführungskonstitution erschöpft sich also nicht im Preis des kaiserlichen Herrschers, sondern trifft wohldosiert die Wünsche und Ängste jedes Studienanfängers, sowohl damals wie auch heute4). Es wird sich herausstellen, daß auch das hierauf folgende Lehrbuch mit ähnlichem pädagogischem Geschick komponiert ist. 8
Anhand der Überschrift der Institutionen lassen sich einige Worte über alma mater, Magnifizenz (und Spectabilität) anbringen, Ausdrücke, die nicht allen angehenden Akademikern von zu Hause mitgegeben sind. Von persönlicher Leistung getragene soziale Rangordnung tun die Hörer keineswegs als lächerlich ab. Ehrend erwähne ich, nachdem Gaiusnoster schon in const. Imp. 6 genannt wurde, nun auch — die Romanistik möge mir verzeihen — Tribonian sowie die antecessores Theophilus und Dorotheus. Besonders delikat sind die ersten beiden Titel des 1. Buches. De iustitia et iure ist vor allem pädagogisch konzipiert: Die hohen Ziele der Jurisprudenz (pr., 1,3) — ich fasse sie als Appell zur Persönlichkeitsbildung auf und bemerke, daß man sie im Laufe der mehrjährigen „technischen“ Ausbildung zum Juristen aus den Augen zu verlieren droht — rahmen einen wichtigen Ratschlag ein (§ 2): Wie wird man anhand des gewaltigen Stoffes mit Selbstzweifeln fertig, die zum desertor (drop out) führen können. Das rote Büchlein hilft, wie auch ich ehrlich meine. § 4 zeigt erstmals ein das ganze Lehrbuch durchziehendes didaktisches Prinzip: Am Schluß eines Abschnitts steht gerne eine Disposition, die den Leser, verbunden mit einer griffigen Definition, die künftige Abfolge des Stoffes nahebringt. Aus der Dichotomie ius publicum-privatum wird das erste ausgeschieden, das zweite in Gestalt einer nun dreifachen Untergliederung im 2. Titel näher ausgeführt. Dieser Titel bringt nützlichen Lehrstoff aus der „Rechtsgeschichte“ — nicht zu vergessen das ius respondendi (§ 8) — eingebettet in die Fragestellung nach dem ius naturale. Besonderes Interesse finden bei den Hörern die verschiedenen Konzepte des „Naturrechts“, die in pr., 1, 2 fin. und 11 anklingen: das alle Lebewesen umschließende (es wird heftig akklamiert), das von der Vernunft, der Menschlichkeit oder der göttlichen Vorsehung getragene. Auch der 2. Titel schließt mit einer Disposition (§ 12), der Dreiteilung des gesamten Stoffes in personae, res, actiones. Das gibt, mit einem Vorgriff auf die res incorporalis (anstelle von Gaius diesmal Inst. 2,2), Gelegenheit, über die europäischen Privatrechtssysteme zu sprechen, gleichzeitig aber auch die praktische Bedeutung jeglichen „Systems“ zu relativieren. Die Vorlesung ist in der dritten Woche angelangt. Weitere vier Wochen sind für Person und Familie, sechs für das Sachenrecht vorgesehen. 9
Es führte zu weit, an diesem Ort die Vorlesung de iure personarum (Tit. 3-26) nachzuzeichnen. Folgt man dem justinianischen Lehrbuch, kann man sicher gehen, daß Spannung und Belehrung einander die Waage halten. Jede Stunde bietet Gelegenheit, einfache Rechtsfälle zur Diskussion zu stellen, so etwa cum homo liber ... ad pretium participandum sese venumdari passus est (1,4,4; erste Gedanken zum Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft — Achtung, kein „Selbstverkauf“, wie Anfänger meinen), oder den Status des Kindes einer Sklavin, die während der Schwangerschaft vorübergehend frei war (1,4 pr.). Nicht die Aktualität der Fälle regt die Hörer an, sondern die Aufgabe, sich die gesellschaftliche Realität dahinter vorzustellen und den damaligen Wertungen mit dem technisch richtigen Instrumentar gerecht zu werden. Im Personen- und Familienrecht Justinians sind eine Reihe von Themen unterdrückt, welche die antecessores heute (wie wohl auch damals) im Unterricht des römischen Rechts wohl schwerlich missen möchten (oder mochten). So empfiehlt es sich etwa, bereits zu 1,4,3 (neben einer Warnung vor der antiken Etymologie) die Geschichte und den Hergang der (von Justinian verpönten) mancipatio zu erklären, die später noch für die adoptio (1,11) oder die emancipatio (1,12,4.6; in 2,10,1 für das Testament mißbraucht) und selbstverständlich in 2,1,40 (traditio) aktuell wird. Als nächstes der „nachgeformten Rechtsgeschäfte“ wäre auf die manumissio vindicta (1,5,1) einzugehen, die — höchst eindrucksvoll ist hier die Überwindung eines hemmenden Formalismus zu demonstrieren — schließlich in transitu vorgenommen werden konnte, wenn der Statthalter in das Bad oder das Theater schreitet. Kein Wort verlieren die Titel 1,21-23 über die tutela mulierum; schwerer wiegt, daß im Titel de nuptiis (1,10) — sichtlich eingeschoben, um den natürlichen Entstehungsgrund der patria potestas (1,9) von der Adoption (1,11) abzugrenzen — das Ehegüterrecht völlig fehlt. Lediglich in 1,10,13; 2,1,41 und 2,7,3 ist die dos nebenbei erwähnt. All das an den entsprechenden Stellen unter Hinweis auf ein Lehrbuch nachzutragen, fällt nicht schwer. Stark zu kürzen sind hingegen die Titel 1,13 (de tutelis) bis 1,26 (de suspectis tutoribus ...); auctoritas und pubertas (1,21f.) bleiben ungeschoren. 10
Auch im Sachenrecht (2,1-2,9,5; 4,15) muß man einen Weg suchen zwischen den modernen Lehrbüchern und der Themenfolge Justinians (Titel 2,1: Ausscheiden der nicht im Privatrechtsverkehr stehenden Sachen, pr.-10; originärer Eigentumserwerb, 11-39; derivativer, 40-46; Sonderfälle, 47f.; Titel 2,2-2,5: res incorporalis, beschränkte dingliche Rechte; pignus erst 2,8,1; 2,6: Ersitzung; 4,15: Besitzinterdikte). Vor allem fehlt ein Abschnitt über Besitz. Das muß didaktisch nicht unbedingt von Nachteil sein: Bereits die occupatio mit ihren schönen Fällen (2,1,12-14) verlangt ein genaues Eingehen auf die faktische Gewalt und den Willen, ebenso die schwierigen Beispiele der Akzession (25-34), die außerdem noch das gesamte Arsenal von rei vindicatio, exceptiodoli und condictio abverlangen; der bonae fidei possessor kommt beim Fruchterwerb vor (35), traditio und Surrogate beim derivativen Eigentumserwerb (41 u. 44, wo man auch Besitzer und Inhaber erklären muß); es folgen usucapio (2,6) und interdicta (4,15). In diesen zahlreichen Anläufen wird die schwierige Materie des Besitzers vielleicht mit größerer Nachhaltigkeit vermittelt als durch einen einzigen Blick auf das glasklar scheinende Schema der modernen Lehrbücher. 11
Das Erbrecht wird man heute kaum noch in dem von Justinian gebotenen Umfang vortragen können; selbst in Österreich sind die Tage dieser Vorlesung gezählt — doch scheint das Interesse an dieser Materie auf lange Sicht gesehen eher zu wachsen. Daß das Testament vor der gesetzlichen Erbfolge abgehandelt wird, ist kein Nachteil. Der historische Ausflug in 2,10,1 verlockt zu Spekulationen über die Entwicklung der Testierfreiheit. 12
Verhältnismäßig knapp gehalten ist das Obligationenrecht. Das vinculum iuris (3,13 pr.) ermöglichst einen anspruchsvollen Einstieg in Schuld und Haftung. Real- und Konsensualkontrakte sind ausgewogen, auf das Wesentliche konzentriert behandelt, überall freilich ausbaufähig, Stipulation und Bürgschaft, angereichert durch allgemeine Lehren, in großer Ausführlichkeit. Oft scheint durch, daß Justinian beim Verbalkontrakt weder die korrespondierenden Worte noch die Mündlichkeit ernst nimmt (3,15,1; 3,19,12; 3,20,8). Besonders instruktiv ist die Umdeutung des alten Litteralkontrakts in einen Schuldschein, gegen den die exceptio non nummeratae pecuniae durch Fristablauf erloschen ist5). 13

III.

Daß eine Vorlesung anhand der Institutionen Justinians möglich ist und bei den Hörern ankommt, zeigt meine bescheidene persönliche Erfahrung. Ob sie in der aufgezeigten Art und Weise sinnvoll ist, mögen die Kollegen beurteilen. Sicher kann man sie besser gestalten. Sicher wird jeder Antezessor, der sich dem Textbuch verschreibt, seine eigene Auswahl der genauer zu besprechenden Stellen treffen, seine Kommentare zum Text mehr in das klassische römische Recht, in die Privatrechtsgeschichte der Neuzeit oder in die griechisch-hellenistische Rechtsgeschichte hinüberlenken (oder in alle drei). In seiner Unvollständigkeit läßt das Lehrbuch dem Vortragenden größte persönliche Freiheit. Nicht zu vergessen ist, daß die Institutionen lediglich als prima legum cunabula gedacht sind, daß die Studenten des ersten Jahres, die Iustiniani novi (const. Omnem 2), selbstverständlich auch mit Rechtsfällen aus den Digesten in Berührung kommen müssen. (Die Auswahl auf die ersten vier Bücher, die pars prima zu beschränken, wäre freilich heute sinnlos, quia quod post se nihil habet, vocabulo prota nuncupari non potest.) Parallel zur Vorlesung müßte also stets auch eine „Übung“ oder „Exegese“ angeboten werden, worin die zeitlosen Leistungen der klassischen römischen Juristen darzustellen sind: etwa das negotium claudicans und das schwebend unwirksame Rechtsgeschäft mit seinen bereicherungsrechtlichen Konsequenzen, auch angewandt im Dreipersonen-Verhältnis — variiert durch Fälle der verbotenen Ehegattenschenkung6). Niemand wird daran zweifeln, daß auf diese Weise bereits im ersten Studienjahr Rechtsunterricht auf höchstem Niveau geboten werden kann. Die neuen Digestenübersetzungen leisten hier unschätzbare Dienste. 14
Ein derartiges Konzept steht und fällt mit der Akzeptanz durch die Studenten. Keiner und keinem Studierenden ist es freilich zumutbar, sich in eine schwierige Materie einzuarbeiten, wenn die Mühe nicht durch das Prüfungssystem belohnt wird. Ganz konkret ausgedrückt: Solange in Deutschland das Studium durch eine einzige staatliche Abschlußprüfung absolviert wird, hat das römische Recht, wie immer es dargeboten sein mag, kaum Aussicht auf breitere Akzeptanz. Die Chance, die Kenntnisse dort einzubringen, sind zu gering. Die Fakultäten sollten sich besinnen, die Qualifikation des Studienabschlusses in ihre eigene Verantwortung zu reklamieren. Wie überall auf der Welt sollte ein vernünftiges Maß an für den Studienabschluß anrechenbaren Prüfungen über das ganze Studium verteilt werden. Hierein wäre auch das internationale Fach Römisches Recht mit einzubeziehen. Das setzt natürlich erhöhtes Selbstbewußtsein als Romanist und erhöhtes didaktisches Engagement als Antezessor voraus. 15
In Österreich ist die autonome Prüfung durch die in den Fakultäten Lehrenden längst erreicht. Doch droht dort nun wegen der generellen Stundenkürzung der Unterricht des Römischen Rechts marginalisiert zu werden. Wenigstens die Zahl von sechs Pflichtstunden pro Woche, verteilt auf die beiden ersten Semester, sollte gehalten werden. 16

IV.

In sieben Punkte zusammengefaßt möchte ich meine angesichts des Ernstes der Lage vielleicht allzu locker hingeworfenen Bemerkungen abschließen. 17
1) Die Kompilation von ius und leges samt dem einführenden Lehrbuch durch Justinian ist eine kulturelle Leistung von welthistorischem Rang, die auch die Fachvertreter des Römischen Rechts allmählich wieder anerkennen sollten. Wenn wir heute vor der Aufgabe stünden, die Schriften der klassischen römischen Juristen für Zwecke des Unterrichts auf ein Zwanzigstel zusammenzustreichen, könnten wir den Texten wohl kaum mehr Achtung erweisen, als das Tribonian getan hat. 18
2) Das römische Recht hat in Europa jahrhundertelang seine Wirkung über die akademische Lehre entfaltet, und zwar in Gestalt der justinianischen Kompilation, die in erster Linie zu genau diesem Zweck veranstaltet war. 19
3) Wenn heute die Privatrechtsordnungen in der Europäischen Union zusammenwachsen sollen, soll der erste Schritt nicht von Technokraten ausgehen, sondern von den Gelehrten in den rechtswissenschaftlichen Fakultäten. Die in jeder Fakultät vertretenen Romanisten widmen sich dieser Aufgabe seit Jahren, indem sie die gemeinsamen Grundlagen lehren. 20
4) Wir Romanisten sollten uns als antecessores lautstark zu dieser Aufgabe bekennen. Wir sollten voranschreiten auf dem Weg zu einer international koordinierten Juristenausbildung. Wir lehren ein Fach, das alle Privatrechtsordnungen verbindet. Wir sollten in der akademischen Lehre einheitlich von einer Quelle ausgehen, den Institutionen Justinians. 21
5) Neben den Institutionen ist das Studium einzelner Rechtsfälle aus den Digesten unerläßlich. Jeder Antezessor wählt aus dem unerschöpflichen Material frei aus. Moderne Übersetzungen des Corpus Iuris Civilis erleichtern den Zugang zu diesen Quellen. 22
6) Römisches Recht ist als internationales Fach in den Prüfungsordnungen und der Anzahl der Pflichtstunden angemessen zu berücksichtigen. 23

7) Anzustreben ist anhand des Institutionenlehrbuchs ein international gleichmäßiger Stand der romanistischen Ausbildung, der auch einen fruchtbaren zwischenstaatlichen Austausch von Studenten in diesem Fach ermöglicht. 24

Fußnoten:

* Ähnliche Gedanken habe ich unter dem Titel „Die Antecessorenvorlesung“ in der FS Zlinszky (Miscolc 1998) 587-95 entwickelt. Ich danke den Herausgebern des FHJ dafür, daß sie mir das elektronische Medium zur Verfügung stellen.

1 Ich beschränke mich darauf, die Übersetzung ins Deutsche zu zitieren: Corpus Iuris Civilis. Text und Übersetzung, I Institutionen (2. Aufl. 1997), II Digesten 1-10 (1995), übers. u. hg. v. O. Behrend, R. Knütel, B. Kupisch, H.H. Seiler; weitere Übersetzungen sind dort I2 293 Anm. 29 und II p. XXV sq. nachgewiesen (die holländische ist nunmehr bis Band III, Dig. 11-25, gediehen).

2 S. dazu ausführlich B. Kupisch, CIC I2 289-298. Eindrucksvoll und von besonderem didaktischen Wert ist in jenem Band, 304-343, die tabellarische Übersicht über die Institutionenstellen und der von ihnen beeinflußten Paragraphen oder Artikel der Zivilrechtskodifikationen in Deutschland, Österreich, Schweiz, Frankreich, Italien, Spanien (s. die Vorbem. v. R. Knütel, 299ff.); weiter ausholend und mit reicher Literatur G. Wesener, Die Rolle des Usus modernus pandectarum in Entwurf des Codex Theresianus. Zur Wirkungsgeschichte des älteren gemeinen Rechts, in: Wirkungen europäischer Rechtskultur. FS K. Kroeschell, hg. v. G. Köbler u. H. Nehlsen (München 1997) 1363-1388.

3 In erster Linie sind diese Worte wohl gegen die viel ausführlicheren Institutionen des Gaius gerichtet, die man bereits zu dessen Zeit als rechtshistorisch orientiertes Werk betrachten kann. Man könnte sogar darüber streiten, ob nicht Gaius als Textbuch besser geeignet wäre. Angesichts der Wirkungsgeschichte möchte ich heute jedoch Justinian den Vorzug geben. Ich kann mir übrigens nicht vorstellen, daß die justinianischen antecessores es sich verkneifen konnten, bei der Erklärung von neque pupillum neque pupillam in Inst. 2,8,2 auf Gai. inst. 2,80 neque feminam neque pupillum zu verzichten und die tutela mulierum samt res mancipi zu unterdrücken.

4 In Auslegung der const. Imperatoriam kommt G.G. Archi, FS Ankum I (1995) 7-15 zu einer neuen, positiven Bewertung der Institutionen Justinians als Schlüssel zur gesamten Kompilation.

5 S. dazu Archi (o. Anm. 4) 12f.

6 Nach Gai. inst. 2,80-85 (zu Inst. Iust. 1,21 u. 2,8,2 — s.o. Anm. 3) wären etwa zu besprechen Ulp. 40 Sab. D. 26,8,5 pr. -6; Iul. 41 dig. D. 26,8,12; Pomp. 6 Plaut. D. 46,3,66; Iul. 41 dig. D. 26,8,13; Paulus 1 Plaut. D. 26,8,18; Ulp. 32 Sab. (Celsus 15 dig). D. 24,1,3,12 und Iul. 5 Min. D. 24,1,39.

 

Articles May 18, 1998
© 1998 fhi
ISSN: 1860-5605
First publication
May 18, 1998

DOI: https://doi.org/10.26032/fhi-2022-017