Artikel vom 7. Februar 2000
© 2000 fhi
Erstveröffentlichung

Ernst Reuß:

Anfänge der Berliner Justiz nach dem 2. Weltkrieg


I. Entwicklung der Berliner Strafgerichtsbarkeit ab 1945
1. Die Zeit unmittelbar nach der Kapitulation
2. Geschichte des Amtsgerichts Berlin-Mitte
3. Kriminalität in den ersten Jahren
4. Besondere Nachkriegsproblematiken
II. Die Ostberliner Justiz nach der Spaltung
1. Die neuen Richter
2. Die neue Diktion
3. Resümee

I. Entwicklung der Berliner Strafgerichtsbarkeit ab 1945

1. Die Zeit unmittelbar nach der Kapitulation

Schon am 28. April 1945 konnte der Militärkommandant der Stadt Berlin, Generaloberst Bersarin, mit dem Befehl Nr. 1 bekanntgeben, daß die gesamte administrative und politische Macht in Berlin auf ihn übergegangen sei. Kurz nach der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde durch General Weidling machte sich die sowjetische Besatzungsmacht daran, nicht nur die Versorgung der Bevölkerung zu sichern, sondern auch einen neuen Verwaltungs- und einen neuen zweistufigen Justizapparat aufzubauen. 1
Am 18. Mai 1945 fand ein Zusammentreffen aller sowjetischen Militärkommandanten der Berliner Stadtbezirke mit den von ihnen ernannten Staatsanwälten und Richtern sowie Generaloberst Bersarin statt. Auf dieser Tagung wurde die Marschroute zum Neuaufbau der Berliner Justiz vorgegeben, wobei den Richtern und Staatsanwälten weitgehend freie Hand bei Organisation und Besetzung als auch bei der Wahl des Sitzes der Bezirksgerichte gelassen wurde. Grundsätzlich galt die Gesetzgebung bis Januar 1933. Aber auch später erlassene Gesetze konnten weiterhin angewandt werden, soweit sie keinen rassenfeindlichen Charakter hatten und nicht auf die nationalsozialistischen Weltanschauung zurückzuführen waren. 2
Bei der Besetzung der führenden Juristenpositionen bedienten sich die Sowjets anfangs durchaus des bürgerlichen, nationalsozialistisch unbescholtenen Lagers. Allerdings zählte die Justizpolitik in jener Zeit nicht zu den wesentlichen Politikfeldern der Sowjets. Zum Richter oder Staatsanwalt wurde nur derjenige zugelassen, der nicht der NSDAP oder ihrer Gliederungen angehörte. 3
Die, dadurch schon sehr stark reduzierte Anzahl an Richtern und Staatsanwälten nahm weiter ab, da es erhebliche Ausfälle durch Tod, Dauererkrankung oder einfach Dienstunfähigkeit wegen Erschöpfung gab. Die von der SED und der sowjetischen Kommandantur geforderte Heranziehung von Volksrichtern wurde westlicherseits abgelehnt. Stattdessen verkürzte man für aktive Antifaschisten oder wegen ihrer Rasse, politischen Haltung oder religiösen Überzeugung Verfolgte das Universitätsstudium auf vier Semester sowie die Referendarsausbildungszeit auf zwei Jahre. 4
Um die Richternot zu beheben, wurden desweiteren auch bereits pensionierte, unbelastete Richter und Staatsanwälte reaktiviert, Studenten aushilfsweise herangezogen, Rechtsanwälte dienstverpflichtet und wenige "Richter im Soforteinsatz" bestellt. Trotzdem drohte die Rechtspflege steckenzubleiben. 5
Als dann im Juli 1945 die anderen drei Siegermächte ihre Besatzungszonen übernahmen, kam es zu einer vorübergehenden Spaltung des Gerichtswesens, die erst im September 1945 überwunden war. Der Neuaufbau der Justiz mit den Westalliierten erfolgte dann auch im sowjetischen Sektor auf der Grundlage der Gerichtsverfassung, die bereits vor 1933 bestand. 6
Die Neuorganisation der Berliner Justiz unter alleinigem sowjetischen Einfluß war also nur von kurzer Dauer. 7

2. Geschichte des Amtsgerichts Berlin-Mitte

Der Personalbestand des Amtsgerichts Berlin-Mitte, des einstmals größten Amtsgerichts in Deutschland, der 1938 noch 2700 Angestellte umfaßte, sank in der Zeit unmittelbar nach dem Krieg auf 48 (!). Während es 1941 279 Richter am Amtsgericht Berlin-Mitte gab, waren es im März 1946, also zehn Monate nach Ende des Krieges, lediglich 25 Richter (davon sieben Strafrichter) und 216 Angestellte. 8
In der ersten Zeit wurden am Amtsgericht Berlin-Mitte Justizangestellte, in der Hoffnung auf eine spätere Festanstellung, ohne Gehaltsanspruch vorläufig eingestellt. Dazu begann man, neben der Verkürzung der Ausbildungszeit, ab Ende 1946 damit, Rechtsanwälte als Staatsanwälte und Richter für einen gewissen Zeitraum zwangszuverpflichten. 9
Ende 1946 waren in Berlin 55 Rechtsanwälte als Richter und 15 als Staatsanwälte tätig. 1947 waren 88 Anwälte dienstverpflichtet. 1948, nachdem den Anwälten das Recht eingeräumt worden war, ihre Anwaltspraxis nebenbei weiterzuführen, waren es schließlich 120 Richter und 50 Staatsanwälte (im Oktober gar 82 Staatsanwälte). 10
Trotzdem beklagte der Kammergerichtspräsident am 26. Januar 1948 die eklatante Personalnot und bat darum, einen Teil der entnazifizierten Richter wieder einstellen zu können, da ein großer Anreiz zur Wahl des Richterberufes aufgrund der Arbeitsbelastung, der geringen Bezahlung und der fehlenden Pensionsansprüche nicht bestehen und es kaum noch Rechtsanwälte gäbe, die man zwangsverpflichten könne. 11
Mit der Justizspaltung war dann jedoch das Problem des Richtermangels auf beiden Seiten weitgehend gelöst. Während in Westberlin durch ankommende Richter weitere Dienstverpflichtungen hinfällig wurden, konnten in Ostberlin nun endlich Volksrichter eingesetzt werden. Außerdem kam im Westen der Stadt nach und nach der größte Teil der zunächst suspendierten Richter zurück1). 12

3. Kriminalität in den ersten Jahren

Anklagen wegen Eigentumsdelikten waren am weitaus häufigsten. Vergleicht man das mit den Berliner Verurteiltenzahlen aus heutiger Zeit, erkennt man eklatante Unterschiede: Obwohl auch heute noch diese Delikte, die weitaus häufigsten2) Straftaten im Rahmen des StGB sind, betrug der Prozentsatz 1997 lediglich 39,9%3) also prozentual circa die Hälfte von dem, was nach dem Krieg das AG Berlin-Mitte und die gesamte Berliner Justiz beschäftigte. 13
14
Faßt man die sonstigen Normen4) in bestimmte Kategorien zusammen, kommt man zum Ergebnis, daß mehr als die Hälfte aller angewandten sonstigen Normen der Bekämpfung des Schwarzhandels dienten. 15
Typische Fälle waren gerade am Anfang der Nachkriegszeit solche, die der Bekämpfung des Hungers galten. Insbesondere war der Hungerwinter 1946/47 mit einer der schlimmsten Kältewellen des Jahrhunderts Auslöser für viele Vergehen. Es fehlten in Deutschland, wie überall in Europa, Lebensmittel und Kohle. Der Bezug von Lebensmitteln und anderen Gütern war auch nach der Besetzung Berlins nur mit offiziellen Bezugsmarken möglich. Aufgrund der strengen Rationierung herrschte bei der Bevölkerung ein großer Mangel an bezugsbeschränkten Produkten, was viele Berliner dazu verführte, die Bezugsbeschränkungen zu umgehen. 16
Oftmals gab es Probleme aufgrund des Wohnungsmangels und den daraus resultierenden Zwangseinweisungen. Probleme gab es auch mit falschen Amtspersonen, da aufgrund fehlender Uniformen und den nicht klaren Machtverhältnissen eine erhebliche Verunsicherung in der Bevölkerung vorherrschte, die von falschen Polizisten und Amtspersonen ausgenutzt wurde. 17
Insgesamt läßt sich sagen, daß der Nachkriegstäter selten der mit allen Wassern gewaschene Berufsverbrecher war, meistens handelte es sich um warenhungrige, selbst notleidende "Otto Normalverbraucher". 18

4. Besondere Nachkriegsproblematiken

Die Gerichte hatten vor allem mit dem Mangel an Papier, Akten, Stempeln und anderen Einrichtungsgegenständen5) aber auch mit der Stromknappheit zu kämpfen. 19
Auch die Neurekrutierung des Justizpersonals führte zu grösseren Problemen. So hatte beispielsweise das Amtsgericht Berlin-Mitte einen falschen Amtsrichter zu beklagen. Der vielfach Vorbestrafte, der am Schnellgericht Berlin-Mitte in 1½ Jahren sehr viele Urteile fällte, wurde wegen Betrugs, Abgabe falscher eidesstattlicher Versicherungen, Begünstigung im Amt und Fragebogenfälschung festgenommen. Im übrigen gab es ständig Probleme zwischen den neu eingesetzten Richtern und den schon in der Weimarer Republik tätigen. Max Berger, der spätere Militäroberstaatsanwalt, der sich diesbezüglich besonders hervortat, schickte schon mit Schreiben vom 4. Dezember 19456) "an die Genossen Gerichtsoffiziere bei dem Amts- und Kammergericht Berlin-Mitte und den Staatsanwaltschaften" eine "Liste der politisch unzuverlässigen leitenden Beamten", worin er seine Vorgesetzten "als die unverbesserlichen alten bürgerlichen Ideologen und Bürokraten mit starker reaktionärer Schlagseite" denunzierte. Sein Bericht endete mit den Worten: "ich werde laufend weiter berichten" 20
Versuche der Einflußnahme auf die Rechtsprechung gab es in der ersten Nachkriegszeit häufig. Auch die Alliierte Kommandantur und der Magistrat versuchten, lenkend einzugreifen, um der Nachkriegskriminalität Herr zu werden. Dies geschah explizit bei Schwarzhandel, Diebstahl von Nahrungsmitteln, Delikten mit sexuellem Hintergrund, Forstdiebstählen und bei Stromdiebstählen. Resümierend läßt sich jedoch feststellen, daß sich diese Versuche der Einflußnahme angesichts der sehr schwierigen Nachkriegssituation und des vorausgehenden Wütens einer deutschen Besatzungsmacht, vor allem in der Sowjetunion, durchaus in Grenzen hielt. 21

II. Die Ostberliner Justiz nach der Spaltung

Der beginnende Kalte Krieg führte schließlich zur Justizkrise in Berlin und zur anschließenden Spaltung der Berliner Justiz, nachdem der Kammergerichtspräsident am 4. Februar 1949 in den Westen ging und das Kammergericht dorthin verlegte. 22
Nach der Sitzverlegung wurde den Richtern eine Frist bis zum 1. März 1949 gesetzt, bis zu der sie sich im Westen melden mußten, wollten sie ihre Tätigkeit dort fortsetzen. Da nicht genügend Planstellen für Richter vorhanden waren, sollten dienstverpflichtete Rechtsanwälte entlassen werden. Man rechnete mit bis zu 40 ankommenden Richtern. Allerdings geht auch aus diversen Schreiben und aus internen Akten des Kammergericht hervor, daß eine politische Überprüfung stattfand und SED-Mitglieder, die um Übernahme baten, abgelehnt wurden7). 23
In Ostberlin wurde der geflüchtete Kammergerichtspräsident entlassen und Dr. Hans Freund zum Präsidenten des so bezeichneten Kammergerichts Centrum 2 ernannt. Außerdem wurde nun auch im Osten ein Landgericht eingerichtet. Organisatorisch gliederten sich die Ostberliner Gerichte in fünf Amtsgerichte (Berlin-Mitte, Köpenick, Lichtenberg, Pankow, Weißensee), einem Landgericht mit Schwurgericht und dem Kammergericht 24
Von den elf Senatspräsidenten des Kammergerichts meldeten sich am 7. Februar 1949 acht (und zwei weitere kurz danach) bei Dr. Strucksberg im York-Haus im britischen Sektor. Desweiteren meldeten sich zwölf Kammergerichtsräte, sechs Landgerichtsräte, ein Amtsgerichtsrat und vierzehn dienstverpflichtete Anwälte bei Strucksberg8). 25
Aus östlichen Quellen geht hervor, daß sich zu Beginn der Justizspaltung von 124 Ostberliner Richtern 29 nach Westberlin absetzten. Weiter 15 setzten sich in den darauffolgenden 1¼ Jahren ab. Außerdem blieben insgesamt lediglich sechs Staatsanwälte im Osten9). 26
Trotz dieses Aderlasses wurden dort auch in der Folgezeit politisch unzuverlässige Richter noch entlassen und durch Volksrichter ersetzt. Eine Überprüfung der Ostberliner Justiz erfolgte ab 22. Juni 1950. Von allen Richtern, Staatsanwälten und höheren Justizangestellten bis zum Justizinspektor herab, wurden, soweit es noch nicht geschehen war, Lebensbeschreibungen angefordert, um eine personelle Überprüfung vornehmen zu können. Das Ergebnis dieser Überprüfung waren nach der Spaltung die ersten dokumentierten Säuberungsaktionen stalinistischer Prägung in der Justiz, mit der Entfernung des Kammergerichtspräsidenten Dr. Hans Freund und des Landgerichtsdirektors Noa aus dem Justizdienst und Funktionsbeschränkungen zweier Amtsgerichtsdirektoren und die Herausnahme von vier Volksrichterschülern. 27
Angestellte und Richter, die in Westberlin wohnten und noch unentbehrlich waren, sollten vorerst nicht entlassen werden. Dies sollte jedoch dann geschehen, wenn genügend Nachwuchs herangezogen war. Man besetzte die Stellen zielgerichtet mit systemkonformen SED-Mitgliedern, die nicht den Anschein machten, auch nur im Geringsten vom Westen infiltriert zu sein. 28
Gesäubert wurde allerdings weiterhin; bereits Ende 1952 sollten zehn Richter nur deshalb nicht mehr ernannt werden, weil sie lange Zeit in westlicher Gefangenschaft gewesen waren. Bei diesen zehn Richtern handelte es sich allesamt um SED-Mitglieder, die meist schon vor dem Krieg der KPD angehörten10). 29
Aufgrund der Aktenanalyse, von ca. 3000 Gerichtsakten aus den Jahren 1945 bis 1952 zeigt sich, daß nach der Justizspaltung beim Amtsgericht Berlin-Mitte ein vollständiger Personalwechsel stattfand. Ob dies nun aufgrund der Flucht in den Westen oder wegen der versprochenen sofortigen Beförderung, der im ostsektoralen Justizdienst verbleibenden Richter erfolgte, läßt sich wegen fehlender Personallisten nicht endgültig beantworten. Von insgesamt 120 identifizierbaren Richtern war kein einziger vor und auch nach der Justizspaltung als Strafrichter am Amtsgericht Berlin-Mitte tätig. 30

1. Die neuen Richter

Die neuen Richter, die nun zu entscheiden hatten, waren fast durchgängig Volksrichter. Bewerbungen zur Richterschule waren durch Vermittlung einer Politischen Partei, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes oder des Frauenausschusses einzureichen. 31
Zusätzlich zum Austausch des Personals erfolgten schon bald, erstmals am 17. Februar 1950, innerbetriebliche Schulungen. Die Schulung gehörte zu den Dienstpflichten. Die Nichtteilnahme an solchen Schulungen wurde sehr negativ aufgenommen und führte eventuell zu ernsthaften Konsequenzen. 32
Durch all diese Maßnahmen konnte eine systemtreue Juristengefolgschaft gebildet werden. Dies beleuchtet letztendlich auch folgendes Rundschreiben11) an alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Kammergerichtspräsidenten des Generalstaatsanwaltes anläßlich der Maidemonstration vom 2. Mai 1950: 33
"Wir danken allen Teilnehmern an der großen Friedens-Demonstration, insbesondere dem Mai-Komitee und denjenigen Kräften, die durch Tragen der Transparente und Fahnen zur Durchführung unseres Aufmarsches wesentlich beigetragen haben. Wir bitten, davon Kenntnis zu nehmen, daß uns von autoritativer Seite die erfreuliche Mitteilung gemacht wurde, daß durch das disziplinierte und fortschrittliche Auftreten der Abteilung Justiz des demokratischen Magistrats von Groß-Berlin vor den Tribünen zum ersten Male der Kontakt zwischen den Demonstranten und den Tribünenbesuchern hergestellt wurde. Dies verdanken wir vor allen Dingen den guten Sprech-Chören und Gesängen der Richterschule. Mit Rücksicht darauf, daß die Richterschule voraussichtlich ihren letzten Lehrgang für Berlin durchführt, sollte schon jetzt daran gegangen werden, den dann vorhandenen Verlust einer so aufgeschlossenen Gruppe von Juristen durch Zusammenschluß entsprechend geeigneter Mitarbeiter aus der Berliner Justiz auszugleichen. 34
Im übrigen bitten wir den gezeigten Schwung und die zum Ausdruck gekommene demokratische Überzeugung bei der Vorbereitung des innerbetrieblichen Wettbewerbs, bei der weiteren regen Teilnahme an der innerbetrieblichen Schulung und vor allen Dingen bei der Unterschriftensammlung unter den Aufruf zum absoluten Verbot der Atomwaffe zu dokumentieren. In der Rechtsprechung und sonstigen Rechtspflege wird sich die Verbundenheit der Justiz mit dem Volke in der Zukunft entscheidend auswirken." 35
Die Unabhängigkeit der Richter wurde zwar festgeschrieben, sie wurde jedoch durch die Möglichkeit der Absetzbarkeit stark relativiert. Im übrigen wurde auf einen unabhängigen Richter nicht besonders stark Wert gelegt. Der Staatsanwalt sollte der eigentliche Machtfaktor in der Justiz sein. 36

2. Die neue Diktion

Insbesondere zeigen sich der Einfluß der nun alleine agierenden neuen Machthaber und die Auswirkungen der regelmäßigen Schulungen bei der Analyse der Urteilsbegründungen. Bald nach Gründung der DDR änderte sich der Ton in den Urteilsbegründungen grundlegend. 37
Dies ist teilweise zurückzuführen auf die Auswahl der Richter und den Einsatz der Volksrichter, aber mit Sicherheit auch auf die sofortige Anpassung an neue Verhältnisse bzw. auf den vorauseilenden Gehorsam bei vermuteten besseren Karrierechancen. 38
In Urteilsbegründungen wird zum Beispiel eine mildere Strafe ausgesprochen, weil der "Schrottdiebstahl außerhalb des demokratischen Sektors von Berlin, und zwar im Westsektor, durchgeführt wurde."12) Aus denselben Gründen wurde ein Angeklagter nur zu drei Monaten Gefängnis verurteilt13), weil bei der Strafzumessung vom Gericht berücksichtigt wurde, "daß der Angeklagte durch seinen Diebstahl nicht die Absicht hatte, den Aufbau des demokratischen Berlins zu schädigen." 39
Bei einem Fahrraddiebstahl wurde der Angeklagte zu acht Monaten Gefängnis verurteilt, weil es "allgemein bekannt" sei, "daß das Fahrrad wichtigstes Verkehrsmittel unserer werktätigen Bevölkerung ist. Millionäre fahren bekanntlich nicht auf Fahrrädern. Die Tat des Angeklagten ist daher um so verwerflicher"14)oder es wird sogar ein Jahr wegen zweifachen Fahrraddiebstahls ausgesprochen, weil "gerade der Fahrraddiebstahl eine besonders verabscheuungswürdige Tat" sei, "weil hier meistens die werktätige Bevölkerung betroffen ist."15) 40
Ein nicht vorbestrafter Angeklagter, der bei seiner Freundin eingebrochen, Kleidung gestohlen und in Westberlin für 100 Westmark verkauft hatte, wurde zu einer Zuchthausstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt16). In der Begründung kam zum Ausdruck, warum eine derartig hohe Strafe ausgesprochen wurde. Gründe für die drakonische Strafe waren unter anderem die Tatsache, daß der Angeklagte "vor 1945 (...) eine Zeit lang der Gestapo" angehört hatte und weil er "in einer Zeit, wo alle werktätigen Menschen ihre ganzen Kräfte zur Erfüllung und Übererfüllung des 5-Jahresplans einsetzen (...) auf Kosten der Gesellschaft faul in den Tag hinein" lebte. 41
In einem anderen Fall wurde die Verurteilung zu zehn Wochen Gefängnis wegen Kuppelei, damit begründet, daß die Prostitution eine Folgeerscheinung des anarchischen Wirtschaftssystems sei, die bei einer plangelenkten Wirtschaft nichts mehr zu suchen habe, da nun für jeden die Möglichkeit bestehe, durch anständige Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen und deshalb eine abschreckende Strafe auszusprechen wäre17). 42
Wegen gewerbsmäßiger Unzucht wurden Frauen verurteilt
  • weil in Anbetracht der zur Aufgabe gestellten Durchführung des Fünfjahresplanes ein derartiges Verhalten geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen und jede Arbeitskraft für den Aufbau der Wirtschaft gebraucht wird18)
  • oder weil der Angeklagten zu Bewußtsein gebracht werden soll, "welche Aufgaben heute unsere neue demokratische Ordnung besonders an die Frau stellt, nämlich produktiv am Wiederaufbau unserer zerstörten Hauptstadt teilzunehmen19) ".
43
Auch in den Begründungen der Urteile gegen Buntmetalldiebe wurden politische Vorgaben bzw. erfolgreiche Schulungen offensichtlich. Die Begründungen der Urteile ähnelten sich in frappierender Weise. Es hieß z.B.20): 44
"Er hat sich jedoch schwer gegen die Interessen der Allgemeinheit zum Schutze einer geordneten Wirtschaftsplanung vergangen (...) Das gestohlene Metall wird in den überwiegenden Fällen dem Westsektor zugeführt, wie es auch nach Auffassung des Gerichts hier geschehen sollte. Von hier wandert das Metall per Schiff nach USA und England. Ein Metalldiebstahl ist nicht ein einfacher Diebstahl, sondern grenzt an Sabotage unserer Wirtschaft. Unser zukünftiger Lebensstandard wird durch die Handlungsweise gefährdet. Das Gericht hat den Angeklagten aus diesem Grunde mildernde Umstände für den schweren Diebstahl versagt, zumal in Rundfunk und Presse in ausreichendem Maße seit einem Jahr auf das Verwerfliche eines Buntmetalldiebstahls hingewiesen wird." 45
Oder21): 46
"Das Monopolkapital zahlt für Buntmetall, das aus der DDR oder dem demokratischen Sektor von Berlin in ihre Hände gelangt, erheblich höhere Preise als den Weltmarktpreis. Es verfolgt den schändlichen Plan, die Wirtschaft der DDR auszuplündern und den Wiederaufbau zu verhindern" 47
Ein mildes Urteil des Amtsgerichtes-Mitte22) über drei Monate Gefängnis wegen des Diebstahls von 0,5 kg Kupferdraht wurde vom Landgericht "kassiert" und der Angeklagte zu einem Jahr und drei Monaten verurteilt, weil die Buntmetalle "nach Westeuropa oder Amerika zur Wiederaufrüstung" gelangen23). 48
Auch bei Wirtschaftsvergehen zeigten die Schulungen möglicherweise ihre Wirkung. In den Begründungen hieß es z. B.24): 49
"Es muß für jeden Werktätigen oberstes Gesetz sein, die Durchführung unserer Wirtschaftspläne zu sichern. Nur so wird es möglich sein, daß die wirtschaftliche Lage aller Werktätigen gebessert wird." 50
Zuweilen wurde ganz allgemein begründet25): 51
"Unsere Gesetze dienen den Werktätigen. Wer diese Gesetze verletzt, gefährdet die wirtschaftliche Besserung der Werktätigen" 52
Die Diktion der Urteilsbegründungen änderte sich allerdings auch in ganz normalen Verfahren. In einem Privatklageverfahren26) zeigte sich die neue Diktion sehr deutlich. Eine 64-jährige Frau wurde wegen Verleumdung zu zwei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, weil sie die Hausvertrauensfrau, die ihren Ehemann wegen Schwarzhandels angezeigt hatte, einer Mitmieterin gegenüber als Denunziantin bezeichnete. Im Urteil hieß es: 53
"Derartige Äußerungen sind dazu angetan, das Vertrauen zwischen den Hausvertrauensleuten als ehrenamtliche Mitarbeiter in unserer antifaschistisch-demokratischen Ordnung zu untergraben. Indem die Angeklagte behauptete, daß unsere demokratischen Parteien die Vertrauensleute als Spitzel benutzen, hat sie die Verleumdung des RIAS und der Westpresse unterstützt und wiedergegeben. Wenn die Angeklagte auch noch nicht vorbestraft ist, so wäre derartigen Verleumdungen, die auch einen Angriff auf unsere antifaschistisch-demokratische Ordnung bedeuten, mit einer Geldstrafe nicht Genüge getan." 54
Urteile zu Strom- bzw. Gasdiebstählen wurden wie folgt begründet27): 55
"Dem Angeklagten muß klargemacht werden, daß in der Zeit des Aufbaus unserer demokratischen Wirtschaft jedes Kilowatt Strom benötigt wird. Es geht also nicht an, daß die Erhöhung des Lebensstandards der werktätigen Bevölkerung durch Stromdiebstähle gehemmt wird" 56
oder28) 57
"Die zur Gasherstellung notwendige Kohle ist ein wichtiges Produkt für unsere gesamte Industrie und dient der Erfüllung des Fünfjahresplans. Dadurch, daß immer wieder Gas- und Stromdiebstähle vorgenommen werden, erfolgt also eine beträchtliche Schädigung unserer wirtschaftlichen Entwicklung." 58
Selbst einfache Verkehrsunfälle wurden als Störung der Wirtschaft angesehen und dementsprechend bestraft29): 59
"Um möglichst vielen Werktätigen ihre Arbeitskraft dem Aufbau unserer Friedenswirtschaft zu erhalten, ist es unbedingt erforderlich, daß jeder am Straßenverkehr Beteiligte sich so verhält, daß Verkehrsunfälle vermieden werden." 60
Die Freiheitsstrafe bei einer einfachen Körperverletzung wurde deshalb ausgesprochen, weil30) 61
"Kinder den besonderen Schutz unserer antifaschistisch-demokratischen Ordnung genießen und durch Schlagen zu Duckmäusern erzogen werden, war bei dem Angeklagten eine Geldstrafe nicht angebracht." 62

3. Resümee

Für die Zeit nach der Justizspaltung im Februar 1949, mit dem Einsatz der neuen Volksrichter und der neuen Justizpolitik, änderte sich in gravierender Weise vor allem die Diktion. Dies geschah bei den Verfügungen und bei den Runderlässen innerhalb der Justiz genauso wie bei den Urteilsbegründungen der abgeurteilten Bagatellkriminalität, obwohl bei der Strafzumessung dieser Delikte keine großen Änderungen zur "Vor-Spaltung-Ära" festzustellen waren. 63
Eine entscheidende, grundsätzliche Änderung der Rechtsprechung bei diesen Delikten kann daher nicht konstatiert werden. Die zeittypischen Vergehen, bei denen vor allem der Diebstahl herausragte, wurden zur damaligen Zeit von mitfühlenden Richtern zum Teil milde abgeurteilt. In den Urteilsbegründungen war sogar häufig ein gewisses Verständnis für den notleidenden Normalbürger herauszulesen. 64
Allerdings gab es nach der Justizspaltung teilweise drakonische Strafmaßnahmen, insbesondere beim Buntmetalldiebstahl. Diese Ausnahmen sind auf die, vom Justizministerium der DDR gesteuerten, Kampagnen zum Buntmetalldiebstahl zurückzuführen. 65
Allgemein ist daher festzustellen, daß die Richter von sich aus eher geneigt waren, milder zu urteilen. Strenge oder besonders scharfe Urteile wurden erst nach diversen Kampagnen gefällt. 66
Während in der Zeit vor der Spaltung bei den meist alteingesessenen Richtern, die nach ihrer Pensionierung oder Entlassung durch die Nazis nochmals reaktiviert worden waren, eher ein gewisser Widerstand, mitunter Unmut und eine gewisse Sperrigkeit gegen obrigkeitliche Verfügungen zu konstatieren ist, kann man bei den Volksrichtern eine möglicherweise eher geringere Resistenz gegen derartige Verfügungen feststellen, da bei diesen neuen Richtern die Unabhängigkeit anscheinend nicht den Stellenwert wie bei den alteingesessenen Richtern hatte. 67


Fußnoten:

1 Beginnend mit der Amnestie BK/O (49) vom 5. April 1949; Verordnungsblatt für Groß-Berlin 1949, S. 122.

2 Straftaten im Straßenverkehr sind zwar zweimal so häufig, werden aber hier nicht berücksichtigt, da sie in der damaligen Zeit kaum eine Rolle gespielt haben und auch heute bei den Verurteiltenzahlen gesondert dargestellt werden.

3 Statistisches Jahrbuch Berlin 1998, S. 210 ff.

4 Strafrechtlich relevante Normen außerhalb des StGB.

5 Sogar der Präsident des Kammergerichts Dr. Strucksberg mußte sich um - aus heutiger Sichtweise - Lappalien kümmern, um den Dienstbetrieb aufrecht zu erhalten, wie eine Verfügung vom 28. September 1946 zeigt: "Die Glühbirnendiebstähle im Hause Neue Friedrichsstraße 12-17 häufen sich in letzter Zeit so, daß Gefahr für die ordnungsmäßige Durchführung des Dienstbetriebes in den Wintermonaten besteht. Als Vorbeugemaßnahme ordne ich an: Nach Dienstschluß hat jeder, der an seinem Arbeitsplatz oder im Arbeitszimmer leicht erreichbare Leuchtkörper hat, daraus die Glühbirnen zu entfernen und unter sicheren Verschluß zu bringen. Jeder haftet für die an seinem Arbeitsplatz oder in seinem Arbeitszimmer vorhandenen Glühlampen und muß bei deren Diebstahl selbst Ersatz leisten, wenn er die nötige Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Die Glühlampen der Deckenbeleuchtungen sind in den Fassungen zu lassen." Aus: Landesarchiv Berlin, Generalakten des AG-Mitte, C Rep. 341, G1, 12 Gen III.

6 SAPMO-BArch, DY 30 IV/2/13/407, Bl. 8.

7 Erwähnt in Kammergericht, Az: 2000 A-7 KG, Bl. 15.

8 Laut Tagesspiegel v. 8. Februar 1949 waren es 8 von 9 Senatspräsidenten, bei Scholz, Berlin und seine Justiz, 1982, S. 125 waren es 8 von 11.

9 Landesarchiv Berlin, C Rep. 900 IV L-2/3/ Nr. 124, Bl. 148 - 155.

10 Landesarchiv Berlin, C Rep. 900 IV L-2/3/ Nr. 167 (SED-Landesleitung Berlin), S. 18 - 19. Vorschläge zur Richterbesetzung, Brief der Abteilung Staatliche Verwaltung an das Sekretariat vom 29. November 1952. Die neuen Justizgesetze, die am 1. Dezember 1952 in Kraft traten, sahen eine Neuregelung für die Berufung der Richter vor. Es wurde festgelegt, daß die am Kammergericht tätigen Richter durch den Magistrat von Groß-Berlin gewählt werden müssen und alle übrigen Richter durch den Oberbürgermeister zu ernennen sind.

11 Landesarchiv Berlin, Generalakten des AG-Mitte, C Rep. 341, G5, Abt. 85, Sammelakten Band I.

12 Az: 91 DLs 149/50.

13 Az: 81 Dls 188/50. Eine äußerst geringe Strafe im Vergleich zu den sonst drakonischen Strafen bei Buntmetalldiebstahl in jener Zeit.

14 Az: 91 DLs 142/50.

15 Az: 97 Ds 73/50.

16 Az: 80 Dls 29/51.

17 Az.: 91 Ds 203/50.

18 Az: 95 Es 28/51.

19 Az: 95 Es 20/51.

20 Az: 91 Dls 151/50, im Wortlaut fast genauso Az.: 91 Dls 94/51.

21 So das Landgericht in der erfolglosen Berufungsverhandlung zum Urteil :Az.: 91 Dls 94/51.

22 Az: 91 Dls 180/50.

23 Im Wortlaut genauso Az: 95 Dls 19/51.

24 Az: 81 Ds 11/51.

25 Az: 81 Ds 12/51.

26 Az: 81 Bs 99/52.

27 Az: 81 Ds 39/51.

28 Az: 81 Ds 34/51.

29 Az: 81 Ds 41/51.

30 Az: 81 Bs 43/52.

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