Artikel vom 14. Dezember 2000
© 2000 fhi
Erstveröffentlichung

Lothar de Maizière:

Die Vereinheitlichung des Zivilrechts im Wiedervereinigungsprozess”1)

Thema: "100 Jahre BGB” 1
Rechtsanwalt Lothar de Maizière, Berlin. 2
Über diesen, wichtigen Teilaspekt der Wiedervereinigung kann man, glaube ich, nur reden, wenn man ihn einbettet in die Gesamtgeschehnisse der Jahre 1989/1990. 3
Nachdem das Unerhörte, das von vielen Menschen für das 20. Jahrhundert nicht mehr Erwartete, der Fall der Mauer, passiert war, ging es im wesentlichen um zwei große Aufgaben. Zum einen galt es, die innere Demokratisierung im Lande voranzutreiben. Zum anderen ergab sich schon sehr bald die Aufgabe, die notwendigen Voraussetzungen für die Herstellung der deutschen Einheit zu schaffen. 4
Am Ende einer ersten Phase, die einerseits durch das Wirken der Übergangsregierung Modrow geprägt ist, und zum anderen durch das Wirken des Zentralen Runden Tisches und der dezentralen Runden Tische standen die ersten freien Wahlen am 18.März 1990. Aus diesen Wahlen ging eine Volkskammer hervor, die diesen Namen erstmalig zu Recht trug. Die Wahlen waren aber zugleich in mehrfacher Hinsicht ein Plebiszit: 5
- ein Plebiszit zur Herstellung der Einheit Deutschlands, 6
- ein Plebiszit für eine föderale, grundgesetzkonforme Demokratie, 7
- ein Plebiszit für den Rechtsstaat mit seiner klaren Gewalten-teilung. 8
Um für diese gewaltigen Aufgaben die parlamentarischen Mehrheiten zu sichern, beschlossen die Fraktionen der CDU, der SPD, der DSU, des Demokratischen Aufbruchs und des Bundes der Liberalen, eine Koalition zu bilden. Lassen Sie mich aus der am 12. April 1990 unterzeichneten Koalitionsvereinbarung zitieren: 9
" Ziel der Koalition ist: 10
-Wohlstand und soziale Gerechtigkeit für alle Bürger der DDR zu sichern, 11
- Freiheit und Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen, 12
- die Einheit Deutschlands nach Verhandlungen mit der BRD auf der Grundlage des Art. 23 GG zügig und verantwortungsvoll für die gesamte DDR gleichzeitig zu verwirklichen und damit einen Beitrag zur europäischen Friedensordnung zu leisten.” 13
Nicht mehr und nicht weniger hatten wir uns vorgenommen. 14
Unter den Koalitionären herrschte schon bald Einigkeit darüber, dass in Verfolg dieser Ziele fünf Schritte gegangen werden mussten. Lassen Sie mich diese rekapitulieren. 15
1. Wir mussten den Kommunen Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten zurückgeben. Nur so konnten wir uns vom Diktat des Zentralismus befreien. 16
Die Menschen sollten in Fortsetzung ihrer Erfahrungen an den Runden Tischen Demokratie vor Ort gestalten können. 17
Zur Erinnerung: Vom 2. bis zum 12.07.1952 fand die 2. Parteikonferenz der SED in Berlin statt, auf der sie das "Programm zum planmäßigen Aufbau des Sozialismus” beschloß. In Realisierung dieses Zieles ließ die SED bereits am 23. Juli 1952 ein Gesetz beschließen, durch das die auf den Stein'schen Reformen von 1807/1808 beruhende und dem Prinzip der Subsidiarität genügende kommunale Selbstverwaltung zerschlagen und die Länderstruktur in der DDR zerstört wurde. Einher damit ging die Zerschlagung der freiwilligen Gerichtsbarkeit, der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Finanzgerichtsbarkeit, kurz - aller Formen der demokratischen oder rechtlichen Kontrolle und Korrektur staatlichen Handelns. Dies war die endgültige Abkehr vom Prinzip der Gewaltenteilung. Spätere Versuche beherzter Juristen, dem Recht wieder größere Eigenständigkeit zu geben, wurden brutal unterbunden. Gerade hier in Babelsberg, dem Ort der Babelsberger Konferenz, muß daran erinnert werden. 18
2. Mit der Wiedereinführung der Länder haben wir nicht nur wieder an die föderalen Strukturen angeknüpft, die 1952, wie ausgeführt, zerstört wurden, sondern wir haben mit Blick auf Artikel 23 des Grundgesetzes die notwendige Grundgesetzkompatibilität in den Strukturen hergestellt. 19
3. Am 1. Juli 1990 wurde mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der erste große Schritt in Richtung Einheit vollzogen. Der diesbezügliche 1. Staatsvertrag zur Herstellung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion bescherte den Ostdeutschen nicht nur die heißersehnte D-Mark, sondern leitete den Prozeß der Rechtsvereinheitlichung ein. 20
Fortgesetzt wurde dieser Prozeß durch den 4. Schritt, den Einigungsvertrag, der am 31. Juli 1990 im Kronprinzenpalais in Berlin Unter den Linden unterzeichnet wurde. 21
Nur der Vollständigkeit halber soll der 5. Schritt genannt sein. Am 12. September 1990 unterzeichneten in Moskau die Partner der 2 + 4 - Verhandlungen den Vertrag über die "Endgültige Regelung in Bezug auf Deutschland”. 22
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir feiern heute hier den 100. Geburtstag des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Ich frage mich, ob ich denn wohl zu Recht auf dieser Feier bin und vor allem, ob ich der richtige Festredner bin. Denn in dem Teil Deutschlands, in dem ich den wesentlichen Teil meiner Biographie verbracht habe, ist das BGB nämlich erst 86 Jahre alt. 23
Am 1. Januar 1976 wurde das BGB durch das ZGB der DDR abgelöst und trat in den 5 neuen Ländern und in Ost-Berlin erst wieder am 03. Oktober 1990 in Kraft. Als das BGB am 31. 12. 1975 außer Kraft gesetzt wurde, war es nur noch ein Schatten seiner selbst, denn in den Jahren zuvor war es durch umfangreiche gesetzgeberische Maßnahmen weitgehend ausgehöhlt worden. Lassen Sie mich folgende Schritte dafür beispielhaft nennen: 24
1. Am 12. April 1961 trat das Gesetzbuch der Arbeit in Kraft, das später ersetzt wurde durch das Arbeitsgesetzbuch vom 16. Juni 1977. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzbuches der Arbeit im Jahre 1961 waren die Bestimmungen des 6. Titels des 2. Buches §§ 611 ff BGB zwar nicht aufgehoben, praktisch jedoch gegenstandslos geworden. 25
2. Mit dem Familiengesetzbuch vom 12. Dezember 1965, das am 1. April 1966 in Kraft trat, wurde das 4. Buch des BGB (§§ 1297 bis 1921) aufgehoben. Das Familiengesetzbuch griff nicht unwesentlich bereits in das 5. Buch, das Erbrecht, ein. 26
3. Da der Grundsatz der Privatautonomie mit den Prinzipien einer staatlichen Plan- und Kommandowirtschaft unvereinbar ist, ja in einem geradezu diametralen Gegensatz steht, genügte das BGB nicht mehr den Anforderungen, die Rechtsbeziehungen zwischen den der Planung unterliegenden Wirtschaftsubjekten zu gestalten. Am 25. Februar 1965 trat das "Gesetz über das Vertragssystem der volkseigenen Wirtschaft - Vertragsgesetz - ” in Kraft. Dieses Vertragsgesetz wurde später durch ein 2. Vertragsgesetz vom 25. März 1982 ersetzt. Dem Geltungsbereich des Vertragsgesetzes unterlagen nicht nur die Vertragsbeziehungen der volkseigenen Betriebe und Kombinate, sondern auch der Privatbetriebe bis hin zu kleinen Handwerksbetrieben, soweit sie der staatlichen Planung unterlagen, d. h. Planauflagen zu erfüllen hatten. 27
4. Nach dem 01. 01. 1976, d. h. dem Tage des Inkrafttretens des ZGB, durfte das BGB auch nicht mehr als subsidiäres Recht bei internationalen Wirtschaftsverträgen vereinbart werden. An seine Stelle trat diesbezüglich das "Gesetz über internationale Wirtschaftsverträge - GIW vom 05.02.1976”. Es begann die Zeit, in der wir unseren Palandt nur noch heimlich lasen und ohne Quellenangabe zitierten. Mit dem Ende des Jahres 1975 war im wesentlichen ein sich seit dem Ende des 2. Weltkrieges hinziehender Prozeß der Vergesellschaftung oder besser Verstaatlichung der Produktionsmittel abgeschlossen. 28
Quasi privates Eigentum an Produktionsmitteln bestand lediglich noch hinsichtlich des genossenschaftlichen Eigentums der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und der Produktionsgenossenschaften des Handwerkes. Das Eigentum - von den Genossen in die jeweilige Genossenschaft eingebracht - wurde Bestandteil der unteilbaren genossenschaftlichen Fonds und konnte bei Austritt der Genossen nicht wieder herausgelöst werden. Echtes privates Eigentum an Produktionsmitteln bestand mithin nur noch an den Arbeitsgegenständen der kleinen Gewerbetreibenden und Handwerkern. 29
Durch diesen abgeschlossenen Prozeß der Vergesellschaftung der Produktionsmittel war der Regelungsgegenstand des Zivilrechts außerordentlich eingeengt. § 1 Abs. 2 des Zivilgesetzbuches definiert den Regelungsgegenstand wie folgt: 30
"Es (das Zivilrecht) regelt Beziehungen, die von den Bürgern zur Befriedigung ihrer materiellen und kulturellen Bedürfnisse mit Betrieben sowie untereinander eingegangen werden. Es schützt das sozialistische Eigentum, die Persönlichkeit und das persönliche Eigentum der Bürger.” 31
Etwas zynisch, aber dafür um so zutreffender, hat mein geschätzter Vorredner, Herr Prof. Dr. Schröder, vor Jahren das ZGB wie folgt charakterisiert: 32
"Das ZGB war im wesentlichen als das Versorgungsrecht des vermögenslosen kleinen Konsumenten konzipiert.” 33
Die Vereinheitlichung des Zivilrechts im Wiedervereinigungsprozeß war mithin nicht allein die Schaffung eines einheitlichen Rechtsraums aus Gründen der Zweckmäßigkeit, sondern war vor allem die rechtliche Begleitung des schwierigen Transformationsprozesses einer Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft und in diesem Zusammenhang die Befreiung des Bürgers aus der Position des versorgten Mündels hin zu einem in Privatautonomie seine Lebensverhältnisse gestaltenden Menschen. 34
Der Prozeß der Vereinheitlichung des Zivilrechts begann schon vor dem 18. März 1990, d. h. während der Übergangszeit der Regierung Modrow. Am 12. Januar 1990 beschloß die Volkskammer die Streichung des letzten Satzes des Artikels 12 Abs. 1 der Verfassung von 1968, wonach Privateigentum an Bodenschätzen, Bergwerken, Kraftwerken, Talsperren, Großgewässern, Naturreichtümern, Industriebetrieben bis hin zu Post- und Fernmeldeanlagen unzulässig war. Das Schlachten dieser "heiligen Kuh” geschah quasi in einem Nebensatz. 35
Im verfassungsändernden Gesetz vom 12. Januar 1990 heißt es lapidar: "Im Art. 12 Abs. 1 wird der letzte Satz gestrichen und durch folgenden Satz ersetzt: 36
Abweichungen hiervon sind auf der Grundlage der Gesetze zulässig.” 37
Ein weiterer "Dammbruch” waren die Gesetze vom 07. März 1990, und zwar sowohl das "Gesetz über den Verkauf volkseigener Gebäude”, nach dem abweichend von der bisherigen Regelung nicht nur die Gebäude erworben werden konnten, sondern auch der Grund und Boden, auf dem die Ein- bzw. Zweifamilienhäuser errichtet waren, als auch das "Gesetz über die Gründung und Tätigkeit privater Unternehmen und über Unternehmensbeteiligungen”, mit dem verschämt in § 17 die 1972er Enteignungen zurückgenommen wurden. 38
Der bis dahin stets auch ideologisch überhöht propagierte Grundsatz, dass volkseigener Grund und Boden unteilbar, unveräußerbar und unbelastbar sei, war aufgehoben. Da die Koalitionäre, wie eingangs ausgeführt, beschlossen hatten, die Einheit Deutschlands auf dem Wege des Beitritts gem. Artikel 23 GG zu erreichen, wurden anfängliche Erwägungen, noch eine eigene Verfassung der DDR zu erarbeiten, verworfen, statt dessen am 17.06.1990 ein aus 10 Artikeln bestehendes Verfassungsgrundsätzegesetz quasi als Vorschaltgesetz für die bestehende Rumpfverfassung der DDR beschlossen. 39
Bezüglich des hier zu behandelnden Vorgangs sind die Artikel 2 und 3 von Wichtigkeit, wonach Privateigentum einschließlich des Erwerbs von Eigentum und eigentumsgleichen Rechten an Grund und Boden sowie an Produktionsmitteln gewährleistet wurde. 40
Darüber hinaus wurde Gesetz, dass jede natürliche und juristische Person das Recht hat, im Rahmen der Gesetze mit anderen Verträge zu schließen und sich insbesondere wirtschaftlich zu betätigen. 41
Dies waren die verfassungsmäßigen Voraussetzungen dafür, dass am 01.07.1990 der am 18.05.1990 unterzeichnete Vertrag über die Herstellung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft treten konnte. Mit diesem Vertrag begann der eigentliche Transformationsprozeß der ostdeutschen Rechtsordnung. Fortgesetzt wurde dieser Prozeß durch den Einigungsvertrag. In der Zeit zwischen den beiden Staatsverträgen kam es insbesondere auf Seiten der Bundesrepublik zu einer Veränderung der Auffassung, welcher Weg zu gehen sei. 42
Der Staatsvertrag für die Herstellung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ging davon aus, dass die Rechtsordnung der DDR noch für einen längeren Zeitraum fortbestehen würde und dass es mithin darum ginge, die rechtlichen Voraussetzungen für die Herstellung eines einheitlichen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialraums zu schaffen. 43
In Verfolg dieser Systematik wurden in der Anlage I des Vertrages die Bundesgesetze benannt, die die DDR zu übernehmen hatte, in Anlage II wurden die Gesetze der DDR genannt, die von der DDR aufzuheben bzw. anzupassen seien, und in Anlage III wurden die Gesetze beschrieben, die die DDR für ihren Rechtsraum noch neu zu schaffen hatte. 44
Diesen Vertragserfordernissen folgend, hat die Volkskammer in unendlichem Fleiß viele DDR-Gesetze geändert und noch neue Gesetze geschaffen, die bereits am 3. Oktober 1990 durch den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes wieder aufgehoben wurden. 45
Der 2. Staatsvertrag - der Einigungsvertrag - folgte einer völlig anderen Systematik, nämlich der, dass grundsätzlich das Gesetz der Bundesrepublik gilt und dass im einzelnen beschrieben wird, welches DDR-Recht entweder als Bundesrecht für die neuen Länder unbefristet oder zeitlich befristet bzw. als Landesrecht in den neuen Ländern weiter gelten soll. 46
Für unser Thema hieß der Auftrag des 1. Staatsvertrages, dass die Volkskammer das ZGB und einige andere zivilrechtlichen Bestimmungen änderte, um sie so marktwirtschaftstauglich zu machen. Lassen Sie mich einige dieser Änderungen nennen: 47
1. Es wurden alle Bestimmungen aufgehoben, die die Unteilbarkeit, Unveräußerbarkeit und Unbelastbarkeit des Volkseigentums betrafen, so die §§ 17, 20 und 22 Abs. 1 ZGB. 48
2. Aufgehoben wurden ferner jene Bestimmungen, die im Widerspruch zum Grundsatz der Vertragsfreiheit standen, so die Verbindlichkeit allgemeiner Bedingungen gemäß § 46 oder die Bindung an den gesetzlichen Preis § 62 oder die Möglichkeit, bei Preisverstößen den Überpreis zugunsten des Staates einzuziehen ( § 69 Abs. 2 ZGB). 49
3. Das Versicherungsrecht wurde den neuen Gegebenheiten angepasst ebenso wie das gesamte Hypothekenrecht. Nach dem Recht der DDR (hier § 452 Abs. 3 ZGB) durfte ein Grundstück, das persönliches Eigentum ist, nur mit einer Hypothek zur Sicherung einer Forderung belastet werden, die im wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Grundstück steht und sich gegen den Grundeigentümer richtet. 50
4. Beseitigt wurde ferner der Vorrang staatlicher Hypotheken, d. h. der sogenannten Aufbauhypotheken. 51
Es würde zu weit führen, alle Änderungen im einzelnen auszuführen. Erwähnt sei noch, dass mit dem Inkrafttreten des 1. Staatsvertrages am 01.07.1990 das Vertragsgesetz der volkseigenen Wirtschaft aufgehoben wurde. Seine Stelle nahm im wesentlichen das eingangs bereits genannte Gesetz über internationale Wirtschaftsverträge - GIW - ein , das umbenannt wurde in "Gesetz über Wirtschaftsverträge” - GW . Sein Geltungsbereich wurde wie folgt formuliert: 52
"Dieses Gesetz wird auf Wirtschaftsverträge zwischen inländischen Kaufleuten, Unternehmen, Betrieben und den diesen gleichgestellten Wirtschaftssubjekte angewendet. Es ist nicht anzuwenden, wenn ein Partner ein Handwerksbetrieb ist.” 53
Parallel mit den Verhandlungen zum Vertrag über die Herstellung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wurden intensive Verhandlungen darüber geführt, wie mit den Enteignungen in der Zeit der sowjetischen Besatzungszone und nach dem 07. Oktober 1949 in der DDR umgegangen werden solle. Das Ergebnis mündete in die gemeinsame politische Erklärung vom 15.06.1990 ein, die in Anlage III Bestandteil des Einigungsvertrages wurde. Angesprochen ist hiermit der gesamte Komplex dessen, was die letzten 10 Jahre Gesetzgebung und Justiz unter dem Stichwort "Offene Vermögensfragen” beschäftigt hat. 54
Heute diesbezüglich ins Detail zu gehen, würde zu weit führen. Dennoch ein Gedanke. 55
Wie kaum an einer anderen Materie wurde an diesen Problemen klar, wie schwer es ist, nach Zeiten des Unrechts mit Mitteln des Rechts Gerechtigkeit zu suchen, ohne zugleich neues Unrecht zu begehen. Im Zuge des weiteren Prozesses der Vereinheitlichung des Zivilrechts war zumindest bei den Verhandlungen das Bestreben der DDR-Seite, die berechtigten Ansprüche der DDR-Bürger an diesen Vermögensgegenständen zu sichern. 56
Für die Rechtsvereinheitlichung im Zusammenhang mit dem Einigungsvertrag bildeten die Grundlage die Artikel 8 und 9 des Einigungsvertrages. Artikel 8 beschreibt den Grundsatz, wonach Bundesrecht nach dem Beitritt im Beitrittsgebiet wirksam wird, sofern nicht in dem Einigungsvertrag insbesondere in der Anlage I anderes bestimmt ist und Artikel 9 bestimmt, unter welchen Voraussetzungen DDR-Recht als Bundesrecht für die neuen Länder bzw. als Landesrecht derselben fort gilt. 57
Für das Zivilrecht ist die Rechtsangleichung in der Anlage I Kapitel III unter Buchstabe B Bürgerliches Recht geregelt. Systematisch wählte man den Weg der Fortschreibung des EGBGB, d. h. der Hinzufügung des 6. Teils. Auch hier will ich nicht alle Übergangsbestimmungen ausführen, sondern mich auf einige wesentliche Punkte beschränkten. 58
Artikel 230 Abs. 2 regelt, dass das Bürgerliche Gesetzbuch und dessen Einführungsgesetz ab dem 03. Oktober 1990 geltendes Recht sind. Zuvor wird im Abs. 1 festgesetzt, daß die §§ 616, Abs. 2 und 3, 622 und die §§ 1706 bis 1710 des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht gelten sollten. Ersteres betrifft Kündigungsfristen und Lohnfortzahlungsansprüche, womit ich mich hier nicht weiter auseinandersetzen will. Genannt sei in diesem Zusammenhang, dass es uns gelang, einer Forderung der Liberalen zu widerstehen, die es gerne gesehen hätten, wenn der § 613 a BGB, d. h. die Verpflichtung des Erwerbers eines Betriebes in die bestehenden Arbeitsverhältnisse einzutreten, nicht in Kraft getreten wäre. 59
Wesentlich und eine Forderung der ostdeutschen Seite war das Nichtinkrafttreten der Bestimmungen der §§ 1706 bis 1710, wonach gemäß § 1709 Abs. 1 grundsätzlich für alle nicht ehelich geborenen Kinder die Amtspflegschaft bezüglich der in § 1706 genannten Gegenstände gesetzt war, d. h. für Fragen der Vaterschaftsfeststellung, der Geltendmachung von Unterhalt bzw. von Erb- und Pflichtteilsansprüchen nach dem Vater. Die Übernahme dieser Bestimmungen wäre für uns nicht hinnehmbar gewesen, da es einen tiefen Eingriff in die bestehende Rechte der alleinstehenden Mütter bedeutet hätte. 60
In dieser Regelung ebenso wie in der Regelung des § 1934 a BGB, das dem außerhalb der Ehe geborenen Kinde lediglich ein Erbersatzanspruch in Höhe des gesetzlichen Erbteils zubilligte, sahen wir - und wir haben dies bei den Verhandlungen durchaus auch so artikuliert - die Gefahr eines Verstoßes gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz gem. Art. 3 Abs. 2 GG. Auch diesbezüglich haben wir uns durchgesetzt. In Art. 235 EGBGB § 1 Abs. 2 ist geregelt, dass der § 1934 a sowie die entsprechende Pflichtteilsregelung des § 2328 a nicht für die vor dem 03.10.1990 auf dem Gebiet der DDR geborene Kinder gilt. "Westkinder” und nach dem 03.Oktober 1990 geborene "Ostkinder” mussten noch ein paar Jahre warten, bis diese - wie ich meine - diskriminierenden Bestimmungen durch Bundesgesetz vom 16.12.1997 mit Wirkung zum 1.4. 1998 aufgehoben wurde (Erb Gleich G. BGBL I S. 2968). Die Regelungen der §§ 1705 bis 1711 wurden für das gesamte Bundesgebiet durch Art. 1 Nr. 48 des Kind RG sowie durch die Bestimmungen des Beistandsschaftsgesetzes aufgehoben. 61
Unser Versuch, im Erbrecht die Pflichtteilsregelung des ZGB, das mir noch heute als das wesentlich modernere erscheinen will, zu erhalten, scheiterte allerdings am Widerstand des BMJ. 62
Von außerordentlicher Wichtigkeit für den Rechtsfrieden in Ostdeutschland war, dass gemäß Art. 231 § 5 EGBGB die im Zivilrecht der DDR mögliche Trennung von Grund- und Gebäudeeigentum fort galt. Grundsätzlich galt auch im Zivilgesetzbuch der DDR gemäß § 295 Abs. 1 ZGB die Einheit von Grund- und Gebäudeeigentum. Gemäß § 295 Abs. 2 ZGB waren jedoch Abweichungen davon möglich, und zwar in 4 Bereichen. 63
1. Eigenheime auf volkseigenem Grund und Boden, für den den Eigenheimbauern ein Nutzungsrecht verliehen werden konnte (§ 287 ZGB sowie § 288 Abs. 4 ZGB) Die diesbezüglichen Probleme wurden, nachdem sie zunächst im Einigungsvertrag fortgeschrieben wurden, im Sachenrechtsbereinigungsgesetz vom 21.09.1994 einer Heilung zugeführt. 64
2. konnte getrenntes Eigentum an Gebäuden, Anlagen und Anpflanzungen entstehen in den Fällen, in den Bürgern durch Landwirtschaftliche Genossenschaft oder andere Genossenschaften Grund und Boden zur Nutzung übergeben wurde (§ 291 ZGB und § 292 Abs. 3 ZGB). Diesbezüglich wurde u. a. durch das Landwirtschaftsanpassungsgesetz Heilung versucht. 65
3. Das Auseinanderfallen von Gebäude- und Grundeigentum ergab sich bei Gebäuden und Anlagen, die von Genossenschaften insbesondere von Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften auf volkseigenem Grund und Boden errichtet wurden. Heilung bietet auch hier das Sachenrechtsbereinigungsgesetz. 66
4. Die Trennung von Grund- und Gebäudeeigentum konnte entstehen durch den rechtsgeschäftlichen Erwerb des volkseigenen Eigenheims durch Bürger, wodurch die Trennung vom Grund entstand, da bis zum 07. 03.1990 der volkseigene Grund und Boden nicht mit erworben werden konnte. Heilung dieser Fälle wurde schon durch das sog. "Modrow-Gesetz” vom 07.03.1990 versucht, wonach sogenannte Komplettierungskäufe vorgenommen werden konnten. Endgültige Regelung diesbezüglich liefert das Sachenrechtsbereinigungsgesetz. 67
Aus Art. 232, der die Angleichung des Rechts der Schuldverhältnisse liefert, ist besonders erwähnenswert § 4, wonach die Nutzungsverhältnisse an Grundstücken für Erholungszwecke gem. § 312 bis 315 ZGB weiterhin nach dem DDR-Recht beurteilt werden. Diese sogenannte Datschen-Regelung hat 1990 die Menschen tief bewegt, da viele Menschen in der DDR einen wesentlichen Teil ihrer Lebensleistung in diese Grundstücke investiert hatten. In den Folgejahren wurde versucht, durch die Nutzungsentgeltverordnung, die mehrfach novelliert wurde sowie durch das Schuldrechtsänderungsgesetz einen Interessenausgleich zwischen Eigentümer und Nutzer herzustellen. 68
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den vergangenen 10 Jahren ist immer wieder diskutiert worden, ob es zweckmäßig war, 1990 mit dem Einigungsvertrag im wesentlichen die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu übernehmen, anstatt den Rechtsangleichungsprozeß, so wie es im 1. Staatsvertrag angedacht war, über einen längeren Zeitraum zu erstrecken. Wenn ich mir jedoch das Gesetzgebungstempo des Deutschen Bundestages in den letzten 10 Jahren - insbesondere seine Fähigkeit, erkennbare Mängel des Einigungsrecht nachzubessern, ansehe, bin ich doch recht zufrieden, dass wir uns entschlossen haben, die Rechtseinheit quasi in einem Akt zu erlangen. 69
Wer weiß, ob ich - hätten wir dies nicht getan - heute mit Ihnen zusammen den 100. Geburtstag des BGB feiern könnte. 70


Fußnoten:

1 Vortrag gehalten am 15. 11. 2000 an der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam.


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