Artikel vom 4. Januar 2010
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ISSN 1860-5605
Erstveröffentlichung
Zitiervorschlag / Citation:

http://www.forhistiur.de/zitat/1001mehring.htm

 

Reinhard Mehring:

„ein typischer Fall jugendlicher Produktivität“. Otto Kirchheimers Bonner Promotionsakte

Inhalt:
I. Die Quellen der Promotion
II. Der Student Kirchheimer im Tagebuch
III. Die Promotionsakte
IV. Zum „Bolschewismus“ einig, über den „nationalen Mythus“ uneins

I. Die Quellen der Promotion

Carl Schmitt führte nach 1945 über mancherlei Fragen Register. So verzeichnete er in einer dicken Kladde1 alle Widmungen von Büchern und Sonderdrucken bis in die 60er Jahre hinein. In diese Kladde notierte er auch weitere Fragen. So registrierte er erlittene bzw. erteilte „Refus“, Kontaktverweigerungen nach 1933 und 1945. Eine andere Liste verzeichnet die Doktoranden. Schmitt sortiert die Jahre an der Bonner Universität 1922 bis 1928, die Berliner Handelshochschulzeit 1928 bis 1933 und die Berliner Universitätsjahre 1934 bis 1944. Greifswald und Köln sind nicht vertreten. Die Liste ist ziemlich unvollständig und birgt einige Überraschungen. Neue Namen finden sich. Für die Bonner Jahre stehen Mitchell Benedict Caroll,2 Werner Becker, Ernst Rudolf Huber, Emil Gerber, Carl Georg Hirsch, Hermann Reiners, Ernst Forsthoff, Karl Lohmann, Werner Weber, Otto Kirchheimer, Ernst Friesenhahn. Die chronologischen Angaben sind fehlerhaft. Schmitt erinnert sich selektiv oder lückenhaft3 und rekonstruiert seinen engeren Schülerkreis.

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Kirchheimer gehörte zu den engsten Schülern. Er suchte Schmitts Nähe in Bonn und Berlin und bemühte sich auch nach 1945 erneut um ein persönliches Verhältnis zu seinem Doktorvater. Briefe Kirchheimers sind erst ab 1931 in Schmitts Nachlass erhalten. Seine bereits vor 1933 hervortretende Schmitt-Kritik,4 mit dem Vorwurf des „Begriffsrealismus“, sowie die scheiternde Wiederbegegnung nach 1945 wurde in einem Aufsatz5 bereits eingehend dargestellt. Die folgende Miszelle rekonstruiert gewissermaßen die Vorgeschichte; sie erörtert nur die frühen Kontakte und Einflüsse bis zur Promotion. Kirchheimers Postdoc-Verhältnis in den Berliner Jahren vor 1933 bleibt unthematisch. Nur die Bonner Zeit vom Wintersemester 1926/27 bis Wintersemester 1927/28 wird hier berücksichtigt. Dafür werden bisher unbekannte Quellen dokumentiert und ausgewertet: Schmitts unveröffentlichte, nur vorläufig transkribierte Bonner Tagebücher sowie die Dissertationsakte aus dem Archiv der Juristischen Fakultät der Bonner Universität.

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II. Der Student Kirchheimer im Tagebuch

Kirchheimer kam zum Wintersemester 1926/27 aus Berlin nach Bonn. Am 11. Oktober erwähnt Schmitt seinen ersten Besuch in seinem Privathaus: „Der Student Kirchheimer kam und meldete sich fürs Seminar an.“ (TB 11.10.1926) Im Wintersemester 1926/27 liest er damals „Völkerrecht“ und hält „Verwaltungsrechtliche Übungen“ sowie ein Seminar „Staatstheorien“ ab. Im Sommersemester 1927 liest er über „Politik (Allgemeine Staatslehre)“ und „Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht“. Im Wintersemester 1927/28, seinem letzten Bonner Semester, veranstaltet er eine „Einführung in die Allgemeine Staatslehre (Politik)“ sowie eine Vorlesung „Völkerrecht“, Übungen im öffentlichen Recht und ein „Staatsphilosophisches Seminar“. Wichtige Schüler sind damals Werner Becker,6 Heinrich Oberheid,7 Carl Georg Hirsch8 und Dr. Heinrich Rommen.9

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Am 2. Februar notiert Schmitt: „Schönes Seminar, schlechtes Referat von Hirsch, Oberheid und Kirchheimer sprechen sehr gut.“ Damals wird er auf Kirchheimer aufmerksam und hebt ihn fortan als Stern des Seminars immer wieder hervor. Schmitt vermittelt die Publikation eines Aufsatzes. Am 30. März erwähnt er, dass ein „Aufsatz von Kirchheimer“ gedruckt werden soll. Im Sommersemester 1927 trifft er Kirchheimer wiederholt zusammen mit anderen Schülern. So notiert er am 7. April: „abends [Waldemar] Gurian,10 [Paul oder Alfons] Adams11 und Kirchheimer im Continental getroffen.“ Am 2. Juni heißt es: „Referat von Dr. Rommen über das jus belli. Interessant. Nachher nett unterhalten, mit Becker und Kirchheimer.“ Am 23. Juni heißt es: „abends Seminar, nett, besonders Kirchheimer.“ Wenige Tage später: „Seminar, Kirchheimer war klug und nett“ (30.6.1927). Bald darauf lässt er sich nach dem Seminar von „Kirchheimer und Rommen zur Elektrischen“ (7.7.1927) begleiten. Damals taucht er aber in die Niederschrift seiner „Verfassungslehre“12 ab, weshalb die Notizen zu den Schülern spärlicher werden. Am 17. Oktober 1927 heißt es zum Beginn des Wintersemesters jedoch erneut: „im Institut, etwas mit Kirchheimer gesprochen“ (17.10.1927) Am 5. Dezember trifft er „Kirchheimer, Hirsch und Rommen“ im Institut. Am 10. Dezember begegnet er ihm erneut im Institut. Am 13. Januar schlendert er mit Kirchheimer nach der Vorlesung „Allgemeine Staatslehre“ über die Poppelsdorfer Allee. Am 17. Januar begleitet Kirchheimer ihn nach der Vorlesung zu seinem Assistenten Ernst Friesenhahn.13 Schmitt notiert diese Begegnungen in sein Tagebuch, weil er sich angeregter Gespräche erinnert. Zweifellos schätzt er Kirchheimer damals als einen seiner Meisterschüler.

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Schmitts letztes Bonner Wintersemester 1927/28 ist unmittelbar vor dem Wechsel an die Berliner Handelshochschule durch vielerlei Aufgaben und Aufregungen angespannt. Die schwierigen Wechselverhandlungen, die rapide Niederschrift der „Verfassungslehre“, die schwere Krankheit der Ehefrau Duschka, die ständige Liaison mit der Verkäuferin Magda, zahlreiche Vorträge und Publikationen, einige Reisen nach Berlin und Hamburg, intensive Bekanntschaften und Freundschaftsbeziehungen lassen wenig Zeit zur Betreuung der Studenten und Doktoranden. Wohl kein anderer Doktorand ist damals aber im Tagebuch so präsent. Bei den Begegnungen wird Schmitt auch über den Fortgang der Dissertation gesprochen haben. Bis Ende Januar 1928 ist er aber mit den Korrekturen der „Verfassungslehre“ beschäftigt. Dabei helfen ihm vor allem Albert Hensel14 und Friesenhahn. Anfang Februar ist er noch einige Tage in Berlin. Erst danach kann er sich um seine damaligen Prüfungskandidaten kümmern. Dabei muss er im Wintersemester nicht nur einige Promotionsverfahren durchbringen, sondern darüber hinaus nimmt er in Köln auch Staatsexamina ab.

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Am 10. Februar legt Wilhelm Daniels, der spätere langjährige Bonner Oberbürgermeister, sein Rigorosum ab.15 Am 14. Februar notiert Schmitt dann ins Tagebuch, dass er Kirchheimer in Köln im 1. Staatsexamen prüfte und die Prädikatsnote „Gut“ gab. Vom 18. Februar datiert das Dissertationsgutachten für Carl Georg Hirsch. Am 19. Februar schreibt Schmitt: „Dissertationen gelesen“. Er liest und korrigiert an diesem Tag gleich drei Dissertationen: die Arbeiten von Werner Weber, Kirchheimer und Wilckens.16 Im Tagebuch heißt es: „Zu lange geschlafen, schöner, ruhiger Vormittag, Dissertationen gelesen, freute mich über die Arbeit von Werner Weber, nach dem Essen geschlafen, dann nicht zur Stadt, bei Magda17 abtelefoniert, ziemlich müde und leid[end]; zu Hause Kaffee getrunken, Dissertationen gelesen. Abends nach dem Essen nach Godesberg und zurück, noch etwas gearbeitet.“ Nur Weber, Schmitts späterer Assistent und Nachfolger an der Handelshochschule, erhält damals die Bestnote. Schmitt liest Kirchheimers Arbeit also am 19. Februar, erwähnt sie aber im Schatten von Webers glänzender Dissertation18 nicht weiter. Das knappe Zeitbudget erklärt auch das kurze, argumentativ nicht sonderlich eingehende Gutachten. Allerdings arbeitete Schmitt stets rasend schnell. Ein Pensum von drei Dissertationen und Gutachten an einem Tag musste bei ihm nicht zu Intensitätsverlusten bei der Lektüre und beim Gutachten führen. Tatsächlich ist sein Gutachten zwar ziemlich allgemein gehalten; zweifellos hat er aber Kirchheimers Dissertation am 19. Februar genau gelesen und über das Gutachten hinaus Beobachtungen gemacht.19

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Am nächsten Tag gibt er die Gutachten oder „Dissertationen beim Dekan ab (Wilkens, Weber, Kirchheimer, Hirsch)“ (TB 20.2.1928). Tags darauf schreibt er noch ein Dissertationsgutachten für Rudolf Iserloh.20 Wilckens21 und Hirsch sind Bonner Kollegen- bzw. Professorensöhne, Weber ist Lehrerskind. Kirchheimer hat das soziale Handicap des Juden und mittellosen Vollwaisen. Auch politisch steht er Schmitt nicht nahe. So ist die gute Benotung doppelt bemerkenswert. Das Kirchheimer-Gutachten ist vergleichsweise kurz. Den besten Eindruck hat Schmitt damals von der Arbeit Webers. Nur sie bekommt ein Summa. Wilckens erhält für „Die Entwicklung des Abrüstungsbegriffs“ ein Gut. Carl Georg Hirsch22 und Iserloh erhalten nur ein Ausreichend; Iserloh tritt nachmittags zwar zur mündlichen Prüfung an. Ihm wird aber dann eine Überarbeitung seiner Dissertation abverlangt; Thoma übernimmt nun das Erstgutachten und Iserloh schließt das Verfahren erst 1929 ab.

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Schmitt hält in diesen Tagen seine letzte Bonner Vorlesung und nimmt dann am 25. Februar, einem Samstag, die mündlichen Examina ab: „Werner Weber, Kirchheimer, Hirsch, Wilkens, bei [dem Kollegen und Prüfer Heinrich] Göppert23 Mittag gegessen und ausgeruht.“ Danach sind weitere Prüfungen. Müde nach Hause, notiert er, „abends Peterson und Kirchheimer: Kirchheimer mangelt jedes Nationalgefühl, grauenhaft. Um 11 gingen sie nach Hause.“ (TB 25.2.1928) Bei der folgenden Doktorandenfeier vom 27. Februar erwähnt er Kirchheimer dann nicht mehr namentlich.

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Kirchheimer hat demnach in drei Semestern mindestens zwei Seminare und eine Vorlesung Schmitts besucht. Er pflegte mit Rommen und Hirsch Umgang. Schmitt findet ihn nett und klug, lässt sich gerne begleiten. Er lädt ihn sogar in sein Haus ein. Die private Annäherung geht aber schief. Kirchheimer hat keinen ähnlich engen, fast freundschaftlichen Umgang wie früher Braubach und Gurian, später Becker und Oberheid. Im Sommersemester 1927 war der Kontakt besonders eng. Danach war Schmitt mit der Niederschrift der „Verfassungslehre“ bis in den Januar 1928 hinein okkupiert. Kirchheimer reichte seine Arbeit Ende Dezember ein. Die Semesterferien 1927 dürfte er mit der Niederschrift verbracht haben. Sein Aufsatz „Zur Staatstheorie des Sozialismus und Bolschewismus“ ist nur ein Teildruck aus der „Zeitschrift für Politik“. Die Abgabefassung ist erheblich umfangreicher.

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III. Die Promotionsakte24

Kirchheimers Akte ist leider nicht ganz vollständig erhalten. Es fehlt das Deckblatt mit der Angabe des Prüfungstermins, Prüfungsausschusses (der Prüfer) und dem Protokoll der mündlichen Prüfung. Da jedoch die wichtigsten Teile erhalten sind, ist keine vorsätzliche damnatio anzunehmen. Die Ursachen können vielfältiger und kontingenter Art sein und sind hier nicht rekonstruierbar.

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Am 21. Dezember 1927 gehen 200 Reichsmark Promotionsgebür bei der Universitätskasse ein. Kirchheimer schreibt dann an den Dekan Göppert:

Auf Grund meiner Dissertation:

Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus“ und der eingereichten Unterlagen bitte ich um Zulassung zur Promotion. Das Thema der Arbeit ist von Herrn Professor Schmitt gestellt. Als Hauptfach in der mündlichen Prüfung ergibt sich die allgemeine Staatslehre. Als Nebenfach wünsche ich Völkerrecht und Strafprozeß. Ich habe mich zum Referend.[ariat] angemeldet und die schriftlichen Arbeiten schon beendet.

Otto Kirchheimer.
Bonn, den 27. Dez. 1927.

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Vom gleichen Tag datiert die Ergänzung:

Ich versichere hiermit, daß ich zum ersten Mal mich um die Erlangung des Doktorgrades bewerbe. Ich stehe gegenwärtig im Referendarsexamen.

Otto Kirchheimer
Bonn, den 27. Dez. 27.

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Es ist damals oft keine Floskel, dass Dissertationsthemen vom Doktorvater „gestellt“ wurden. Auch Schmitt hat Themen immer wieder „vergeben“. Da er selbst sich in seinen Schriften häufig auf knappe, thetische Ausführungen beschränkte und als Anreger verstand, war sein Stil in besonderer Weise für akademische Anknüpfungen und Weiterführungen offen und anschlussfähig. So knüpften etwa die Bonner Promovenden Werner Becker25 und Heinrich Lenz26 mit ihren Arbeiten zu Hobbes und Kelsen an die knappen, polarisierenden Ausführungen Schmitts zum „Dezisionismus“ und „Normativismus“ in der „Politischen Theologie“27 an. Auch andere Dissertationen prüften, explizierten und transponierten seine Formeln, Thesen und Ausführungen. Schmitt war gerade in Bonner Zeit ein akademischer Anreger. Kirchheimers Dissertation ist eine typische akademische Explikation und Weiterentwicklung. Schon die respektvollen Bemerkungen im Tagebuch deuten aber darauf hin, dass Schmitt das Thema nicht autoritativ zur sklavischen Vollstreckung vorgab. Vielmehr treffen sich hier seine Interessen mit denjenigen Kirchheimers. Niemand sonst promovierte damals bei Schmitt über Bolschewismus. Gleichwohl trägt auch diese Qualifikationsarbeit Züge eines strategischen Kompromisses. Schmitt lag besonders an einer Kritik des „Bolschewismus“; Kirchheimer stand dem Sozialismus näher. Beide treffen sich in der Kritik des Bolschewismus. Kirchheimer vertrat keine unliebsamen Positionen und verbog sich nicht mit seinen Interessen. In besonders intensiver Weise war Schmitt sein Prüfer und „Doktorvater“.

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Kirchheimer hörte bei Schmitt damals im Wintersemester Allgemeine Staatslehre und wohl auch Völkerrecht, wählte er ihn doch auch als Prüfer im Nebenfach Völkerrecht. Die Wahl des Strafprozessrechts als zweites Nebenfach deutet auf Alexander Graf zu Dohna28 als Prüfer hin. Im mündlichen Examen übernimmt Göppert als Dekan den Vorsitz. Auch Schmitt war von Hause aus Strafrechtler. Darüber hatte er promoviert, darüber las er einst in seiner Zeit als Straßburger Privatdozent. Es prüfte aber wohl Dohna. In besonders intensiver Weise wählte Kirchheimer aber Schmitt als Prüfer und konzentrierte sich auf das Öffentliche Recht.

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Nicht selbstverständlich war es damals, dass Studenten ins Referendariat gingen. Wer nur die akademische Karriere anstrebte, ersparte sich das, obwohl der Status des „Volljuristen“ schon damals nicht unwichtig war. Rudolf Smend beispielsweise hatte kein Referendariat absolviert und direkt die akademische Karriere gewählt. Die Referendarszeit war damals länger als heute.29 Kirchheimer aber ging ins Referendariat, weil er nicht nur auf die akademische Karriere setzte, sondern – wie Ernst Fraenkel und andere „linke“ Juristen - vermutlich die Alternative des Anwalts anstrebte.

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In den Akten findet sich der übliche Lebenslauf:

Lebenslauf

Am 11. November 1905 wurde ich, Otto Kirchheimer, als Sohn des Kaufmanns Julius Kirchheimer in Heilbronn am Neckar geboren. Dort brachte ich auch meine ersten Schuljahre bis zum 12. Lebensjahr zu, von wo aus [?] ich dann das Pädagogium Heidelberg-Neuenheim bis zu meinem 17. Lebensjahr besuchte. Die Reifeprüfung legte ich Ettenheim bei Lahr (Baden) ab. Ein Semester studierte ich in Münster, wo ich hauptsächlich bei Vorländer30 Philosophie und bei Münzer31 alte Geschichte hörte. Von meinem 2. Semester ab war ich in der juristischen Fakultät eingetragen. In meinem 2. u. 3. Semester befaßte ich mich hauptsächlich mit Soziologie bei Scheler32 in Köln. 2 weitere Semester hörte ich Vorlesungen in Berlin und nahm hauptsächlich an den Übungen der Professoren Kohlrausch,33 Triepel34 und Smend35 teil. Vom September 1926 ab halte ich mich in Bonn auf, wo ich an Vorlesungen u. Übungen des Herrn Professors Schmitt teilnahm und dessen Förderung auf dem Gebiete der Staatslehre ich auch die Anregung zu meiner Dissertation verdanke.

Ich versichere hiermit an Eidesstatt, daß ich mich bei Anfertigung vorliegender Arbeit keiner fremden Hilfe bedient und keine andere als die von mir angegeben Schriften benutzt habe.

Otto Kirchheimer
Bonn, den 28. Dezember 1927

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Bei den spärlichen biographischen Zeugnissen ist dieser Lebenslauf ein wichtiges Dokument. Kirchheimer erwähnt nicht, dass er spätestens seit der Oberprima Vollwaise war. Vermutlich verstarben die Eltern schon früher. Das würde die mehrfachen Ortswechsel erklären. „Pädagogium“ ist ein Sammelbegriff insbesondere für Knabenschulen. Kirchheimer besuchte in Heidelberg eine Privatschule.36 Für das Abitur musste er wechseln. Weshalb er nur das Schuljahr 1923/24 nach einer Aufnahmeprüfung am Städtischen Realgymnasium Ettenheim verbrachte, ob aus schulischen oder privaten Gründen, ist unklar. In Ettenheim ist das Abiturzeugnis zwar nicht erhalten, wohl aber ein Notenstammbuch, das Kirchheimer als Vollwaise ausweist,37 einen Vormund Ludwig Rosenthal (Nürnberg) nennt und die Heidelberger Privatschule erwähnt. Das Notenbild ist damals noch schwankend, mit deutlichen Stärken in den literarischen Fächern und Schwächen in den Naturwissenschaften.38

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Interessant sind auch die mehrfachen Studienortwechsel. Kirchheimer studierte direkt nach dem Abitur im Frühjahr ab dem Sommersemester 1924 in Münster, Köln, Berlin und Bonn. So naheliegend ein Wechsel von Köln nach Berlin war, ist die Rückkehr ins Rheinland nach Bonn doch erklärungsbedürftig. Da der Lebenslauf Smend ausdrücklich hervorhebt und von den Bonner Professoren nur Schmitt erwähnt,39 ist nicht auszuschließen, dass Kirchheimer auf besondere Empfehlung Smends zu Schmitt nach Bonn wechselte. Smend stand damals mit Schmitt in enger freundschaftlicher Verbindung. Er wusste, dass Kirchheimers Interesse an der „Staatslehre“, dem Sozialismus und Bolschewismus dort auf starke Erwiderung und Anregung treffen konnte. Auch über Scheler aber könnte Kirchheimer auf Schmitt gestoßen sein. Zwar mieden Schmitt und Scheler die Begegnung, mehrere Schüler Schmitts aber (so Gurian und Paul Ludwig Landsberg) kamen aus dem Scheler-Kreis. Die besondere Konzentration auf Schmitt als Lehrer und Prüfer deutet jedenfalls darauf hin, dass Kirchheimer gezielt nach Bonn ging, um dort zu promovieren. Hier findet der Schüler seinen Lehrer. Ausdrücklich dankt er Schmitt die „Anregung“.

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Das Dissertationsgutachten ist vergleichsweise knapp. Schmitt schrieb, wie skizziert, am 19. Februar 1928 gleich drei Gutachten. Ein Zweitgutachten fehlt. Oft zeichneten die Zweitgutachter damals nur „einverstanden“ ab. Das Gutachten lautet:

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Otto Kirchheimer, Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus.

Die Arbeit enthält zuviele Thesen und unausgeführte Gedanken. Als besonders interessant und wissenschaft[lich] wertvoll sind zu nennen: die These von der sozialen Gleichgewichtstruktur des modernen Industriestaates (S. 11 ff). und die Feststellung, daß im heutigen Sozialismus ein doppelter Fortschrittsbegriff enthalten ist (die „Lehre vom doppelten Fortschritt“ S. 35 ff). Dazu kommen ausgezeichnete begriffliche Ausführungen, wie die Unterscheidung von Utopie und Mythus, die Integrierungsfunktion der Justiz usw. Fast jede einzelne dieser Thesen und Meinungen hätte – in Ruhe systematisch ausgeführt und dargelegt - für eine Dissertation genügt, während jetzt der Gesamteindruck unter dem Übermaß nicht ausgeführter Einfälle leidet. Damit soll nicht gesagt sein, daß es sich um oberflächliche oder dilettantische Apercus handle; vielmehr liegt hier nur ein typischer Fall jugendlicher Produktivität vor. Ich möchte dem Verfasser die Menge seiner Ideen also nicht zum Vorwurf machen und statt dessen die zweifellos sehr große wissenschaftliche Begabung und die selbständige und wertvolle Erörterung von besonders aktuellen und wichtigen Begriffen (wie Demokratie, Liberalismus, Parlamentarismus, Sozialismus) hervorheben, die es m. E. rechtfertigen, die Arbeit als

sehr gut

Zu bezeichnen.

19/2 28 Schmitt.

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Göppert, Hans Schreuer, Fritz Schulz, Hans Dölle Adolf Zycha und Dohna zeichnen das Gutachten ab. Kirchheimer legt daraufhin am 25. Februar von 10 bis 12 Uhr sein mündliches Rigorosum ab. Neben Schmitt ist auch Dohna als Prüfer in Göpperts Wohnung anwesend. Dohna wird Kirchheimer, wie gewünscht, im Strafprozessrecht examiniert haben. Werner Weber wird – laut Prüfungsprotokoll – ausdrücklich „zusammen mit Kirchheimer“ geprüft. Er stand aber vermutlich nicht in enger Verbindung mit Kirchheimer. Schmitt erwähnt beide im Tagebuch damals jedenfalls nie zusammen. Vom 27. Februar datiert der Prüfungsbeschluss, für den Göppert und Schmitt unterzeichnen. Wenige Tage später stellt Kirchheimer einen ergänzenden Antrag an den Dekan Göppert:

Die hohe juristische Fakultät bitte ich, mir zu gestatten, an Stelle der gedruckten Exemplare der vollständigen Dissertation 120 Exemplare eines Aufsatzes einreichen zu dürfen, der demnächst in der Zeitschrift für Politik erscheinen wird. Die Aufbringung der Kosten für die Drucklegung der gesammten Dissertation würde mir kaum möglich sein, da meine Eltern gestorben sind und ich selbst kein Vermögen besitze. Der Aufsatz stellt eine Zusammenfassung der Ergebnisse meiner Dissertation dar. Ich füge das Manuskript des Aufsatzes bei.

Otto Kirchheimer
z.Zt. Nürnberg40

21

Bei Abschluss des Verfahrens ist die „Zusammenfassung“ von der Zeitschrift also bereits zum Abdruck angenommen. Kirchheimer schrieb sie entweder nach Einreichung der Dissertation unter äußerstem Zeitdruck oder parallel zur Abfassung. Seinem Antrag liegt ein 23-seitiges Typoskript des Aufsatzes bei. Der Dekan leitet Schmitt den Antrag zur Stellungnahme weiter:

Herrn Professor Dr. Schmitt
Zur gef. Äußerung u. Antragstellung
Göppert.

22

Umgehend akzeptiert Schmitt Kirchheimers Bitte.

Der beil. Aufsatz enthält eine gedrängte Zusammenfassung der Dissertation und ist von besonderem wissenschaftlichem Interesse. Ich möchte beantragen, dem Wunsch des Doktoranden zu entsprechen.

1/3 28 Schmitt

23

Die Fakultät quittiert einverstanden. Göppert teilt Kirchheimer daraufhin noch im März die Annahme seines Antrags mit:

Herrn Otto Kirchheimer

Die Fakultät gestattet Ihnen, an Stelle der vollständigen Dissertation 120 Exemplare des Ihrem Antrage beigefügten Aufsatzes einzureichen.

G[öppert] 22. III.

24

Vom 15. Mai 1928 datiert ein Schreiben Kirchheimers aus Erfurt an Göppert:

Da ich hier als Referendar beschäftigt bin und nicht abkommen kann, bitte ich ehrerbietigst um Erlaubnis in Abwesenheit promovieren zu dürfen.

Ergebenst
Otto Kirchheimer
Referendar.

25

Noch im gleichen Jahr 1928 erscheint Kirchheimers Dissertation als Teildruck in der „Zeitschrift für Politik“. Wir lesen heute in aller Regel nur diese „Zusammenfassung“ der Dissertation, meist im Wiederabdruck der Suhrkamp-Taschenbuchausgabe.41 Die Arbeit selbst ist weitgehend unbekannt, ja, der Unterschied zwischen Abgabe- und Publikationsfassung wird meist übersehen.42 Die Abgabefassung ist schwer greifbar. Sie enthält auch einen Dank an Schmitt: „Insbesondere aber bin ich meinem verehrten Lehrer Herrn Professor Dr. Carl Schmitt in Bonn für die vielfachen Anregungen, die ich von ihm empfing, zu Dank verpflichtet.“ Diese Abgabefassung soll hier aber nicht weiter erörtert und etwa mit Kirchheimers „Zusammenfassung“ oder mit Schmitts Gutachten verglichen werden.

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IV. Zum „Bolschewismus“ einig, über den „nationalen Mythus“ uneins

Schmitts Gutachten mag auf den ersten Blick enttäuschend klingen; es beschreibt Kirchheimers Arbeit nicht näher und positioniert sich nicht ausdrücklich zu ihr. Insbesondere äußert es sich nicht zum Sozialismus und Bolschewismus. Es identifiziert Kirchheimers Position nicht politisch und verzichtet auf jede Andeutung der Abhängigkeit. Nimmt man die Publikationsfassung in der „Zeitschrift für Politik“, so springt Kirchheimers Abhängigkeit oder Weiterführung Schmitt’scher Überlegungen und Schriften aber sogleich ins Auge. Kirchheimer zitiert „Die Diktatur“, „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ und „Die Kernfrage des Völkerbundes“.43 Wie einige andere Doktoranden auch44 geht er dabei von den Linien der „Geistesgeschichtlichen Lage“ aus: insbesondere von den letzten beiden Kapiteln über „Die Diktatur im marxistischen Denken“ und „Irrationalistische Theorien unmittelbarer Gewaltanwendung“. Ähnlich wie Schmitt unterscheidet Kirchheimer zwischen Marx und Lenin, Sozialismus und Bolschewismus. Wie Schmitt hebt er die Bedeutung von Georges Sorels Theorie des „Mythos“ hervor. Kirchheimer profiliert sie durch eine Unterscheidung von „Utopie“ und „Mythos“,45 der Schmitt zustimmt. Dabei differenziert er zwischen Marx und den „Epigonen“. Ganz im Sinne Schmitts macht er klar, dass Lenin und der Bolschewismus nicht zu den „rationalistischen“ Epigonen gehören, sondern einen „politischen Mythos von der Weltrevolution“46 vertreten. Kirchheimer gelingt damit eine Verbindung oder Weiterführung Schmitt’scher Überlegungen und Schriften: Er verknüpft dessen grundsätzliche Ausführungen zum Mythos des Bolschewismus mit der „Kernfrage des Völkerbundes“ und profiliert so die bolschewistische Disjunktion von „Staat und Souveränität“. Kirchheimer schreibt deutlich, dass der Bolschewismus „anstelle der Staatssouveränität die der Klasse proklamiert“.47 Damit begreift er den Bolschewismus terminologisch über Schmitt hinausgehend als einen staatsfeindlichen „Mythos von der Weltrevolution“ und profiliert Schmitts Unterscheidung des politischen Subjekts vom Staatsbegriff durch eine Verdeutlichung der Souveränitätslehre. Kirchheimers Auffassung des Bolschewismus liegt also auf der Linie Schmitts.

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Interessant sind auch die Ausführungen zum orthodoxen russischen Staat und zur Säkularisierung seiner „moralisch-theologischen Begriffe[] von Gut und Böse“.48 Kirchheimer schreibt, dass der politische Feind im Bolschewismus an die Stelle des „Antichristen“ getreten sei; er knüpft eine spezifische Verbindung zwischen dem orthodoxen zaristischen Absolutismus und der bolschewistischen Mythisierung von Feindschaft. Solche Überlegungen zur Politischen Theologie Russlands und der orthodoxen Welt waren Schmitt nicht fremd; er äußerte sich darüber aber, seit 1926 mit einer orthodoxen Serbekroatin verheiratet, nicht öffentlich. Kirchheimer plaudert hier, in Weiterführung Schmitt’scher Überlegungen, eine säkularisationstheoretische Präzisierung des Bolschewismus aus.

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Schmitt hatte nicht den geringsten Grund, diese Darstellung abzulehnen. Er konnte sich in der Zielführung, der scharfen Unterscheidung von Sozialismus und Bolschewismus, bestätigt sehen. Schmitt hatte schon strategisch im Rahmen seines Gutachtens auch keinen Anlass, Kirchheimers Abhängigkeit von seinen Schriften näher herauszuarbeiten und die Eigenleistung vergleichend zu benennen. Er konzentrierte sich in der Eile eines konzentrierten Gutachtentages deshalb ganz auf die knappe Nennung der Eigenleistungen, die ihm besonders interessant waren. Dabei sah er sogleich, dass Kirchheimers scharfe Profilierung des Bolschewismus seine Begriffe schärfte. Politisch profilierte Kirchheimer den Weimarer Gegensatz von SPD und KPD. Seine einleitenden Überlegungen zur „formalen Demokratie“ sind deshalb auch gegenüber der Kritik des Bolschewismus eigenständig. Schmitt liest den Einstieg mit der „These von der sozialen Gleichgewichtsstruktur des modernen Industriestaates“ aber als konkretisierenden Anschluss an seine „Verfassungslehre“ und deren Formel von der „sozialen Homogenität“. Umgehend zitiert er Kirchheimers These von der „sozialen Gleichgewichtstruktur“ des modernen Industriestaates.49 Damit anerkennt er die eigenständigen Bemühungen um den modernen „Sozialismus“. In seinem Gutachten greift er aber nur einzelne „Thesen und Meinungen“ auf. Die „Integrierungsfunktion der Justiz“ bestreitet er. 1932 positioniert er sich dazu in einer Fußnote: „Die in meinem verfassungstheoretischen Seminar Sommer 1931 von O. Kirchheimer formulierte allgemeine These, daß überhaupt nur ein Exekutivstaat (zum Unterschied vom Gesetzgebungsstaat und Exekutivstaat) Grundrechte haben könne, soll hier wenigstens erwähnt werden.“50 Kirchheimers Überlegungen zur „Integrationsfunktion der Justiz“ stimmt er im Kern nicht zu. Die „Unterscheidung von Utopie und Mythus“ interessiert ihn dagegen im Rahmen seiner anti-utopistischen Geschichtstheologie. Schmitt positioniert sich aber nicht weiter zu Kirchheimers Arbeit, sondern betont nur das Talent und die Selbständigkeit des Autors. Sein Gutachten bestätigt die Wertschätzung, die auch aus den Erwähnungen im Tagebuch spricht. So verwundert nicht, dass Schmitt bis 1933 weiterhin Kirchheimers Kontakt suchte und dessen Arbeit förderte.

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Ganz so einhellig geht das Verfahren aber dann doch nicht durch. Schmitt übersah die politischen Differenzen nicht, sondern hielt sie nur aus dem akademischen Gutachten heraus. Wie zitiert besuchte Kirchheimer ihn am Abend der Promotionsprüfung noch in seinem Friesdorfer Haus. Schmitt erinnert den gemeinsamen Abend im Tagebuch nicht positiv: „Kirchheimer mangelt jedes Nationalgefühl, grauenhaft.“ Diese Notiz markiert die politische Differenz. In seiner Schrift über „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ spielte Schmitt den „nationalen Mythus“ mit Mussolini gegen Lenin und den Bolschewismus aus. Er meinte, dass „der stärkere Mythus im Nationalen liegt“51 und „die Grundlage einer neuen Autorität, eines neuen Gefühls für Ordnung, Disziplin und Hierarchie“52 geben könne. Dahinter lag im Frühjahr 1923, bei Abfassung der Parlamentarismuskritik, auch eine konkrete Wahrnehmung der nationalistischen und extremistischen Gegenbewegungen. Schmitt war in seiner Bonner Zeit zwar kein radikaler Gegner der Weimarer Republik, neigte aber bereits einem antiparlamentarischen und diktatorischen Zäsarismus zu, hoffte auf ein Bündnis des Reichspräsidenten mit konservativen Ordnungskräften. Wenn er am Dissertationsabend also Kirchheimers mangelndes „Nationalgefühl“ kritisierte, forderte er die Alternative seiner Parlamentarismusschrift ein. Schmitt akzeptierte zwar Kirchheimers Kritik des Bolschewismus, wünschte aber eine nationalistische Positionsnahme. Vermutlich sprach er Kirchheimer am Abend auf diese Alternative an. Er diskutierte über die Thesen der Dissertation und legte nach abgeschlossenem Verfahren die politische Zurückhaltung seines Dissertationsgutachtens ab. Vielleicht wurden ihm damals erst die politischen Differenzen voll bewusst. Vielleicht sprach Kirchheimer erst nach Abschluss seines Verfahrens offen. So gab es nach der Prüfung doch noch die politische Kontroverse, die im Verfahren akademisch gemieden wurde.

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Fußnoten:

1 Landesarchiv NRW. Abteilung Rheinland, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-19600.

2 Mitchell Benedict Caroll, Die wirtschaftlichen Forderungen in Friedensverträgen, Diss. Bonn 1923.

3 Nach jetzigem Kenntnisstand betreute Schmitt als Erstgutachter in seiner Bonner Zeit 25 Arbeiten. Drei Arbeiten bewertete er als Erstgutachter summa cum laude (Braubach, Becker, Weber), sieben Arbeiten mit magna (Zimmer, Forsthoff, Schlosser, Lohmann, Huber, Friesenhahn, Kirchheimer). Drei sehr gute Dissertationen erwähnt er also in der Liste nicht (Braubach, Schlosser, Zimmer). Braubach war ein erster enger Schüler, mit dem sich Schmitt verstritt. In seiner Liste erinnert er dagegen auch Dissertationen, die er nur „ausreichend“ bewertete. Nicht erwähnt sind: Bernhard Braubach, Walter vom Dahl, Aloys Zimmer, Joseph Engels, Anton Betz, Carl Weber, Ewald Bergmann, Felix Schneider, Joseph Willms, Joseph Schlosser, Fritz Wiese, Heinrich Lenz, Josef Stein, Wilhelm Daniels, Johann Heinrich Wilckens, Alfons Steiniger. Wenigstens drei Doktoranden (Zimmer, Betz, Daniels) wurden nach 1945 auch als Politiker bekannt. Schmitt erwähnt aber vor allem seine wissenschaftlich bedeutenden Schüler. Neben Otto Kirchheimer musste wenigstens ein zweiter Bonner Doktorand emigrieren: Peter Alfons Steiniger (1904-1980). Er emigrierte in die Tschechoslowakei und wurde dann 1946 bis 1970 Ordinarius für Öffentliches Recht an der Ostberliner Humboldt-Universität; er wurde also gewissermaßen Schmitts Nachfolger. Zu den Bonner Promovenden vorläufig Verf., Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009, 177ff.

4 Otto Kirchheimer und Nathan Leites, Bemerkungen zu Carl Schmitts ‚Legalität und Legitimität’, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 68 (1932/33), 457-487.

5 Verf., Otto Kirchheimer und der Links-Schmittismus, in: Rüdiger Voigt (Hg.), Der Staat des Dezisionismus. Carl Schmitt in der internationalen Diskussion, Baden-Baden 2007, 60-82; zur Gesamtdeutung jetzt Frank Schale, Zwischen Skepsis und Engagement. Eine Studie zu den Schriften von Otto Kirchheimer, Baden-Baden 2006.

6 Werner Becker (1904-1981).

7 Heinrich Oberheid (1895-1977).

8 Carl Georg Hirsch (1903-nach 1968); Hirsch, geb. 15.6.1903 in Leipzig, ist ein Sohn des Bonner Internisten und Prof. Geheimrat Carl Hirsch (1870-1930). Der Vater war ab 1909 Direktor der medizinischen Klinik in Göttingen und ab 1919 Direktor der medizinischen Klink in Bonn (dazu Nachruf Oehme, in: Klinische Wochenschrift 10, 1931, 191). Der Sohn Carl Hirsch legte sein Abitur am Deutschen Kolleg Godesberg 1923 ab und machte danach eine Banklehre in Göttingen; er studierte 2 Semester in Göttingen, 1 Semester in Genf und 5 Semester in Bonn. Zuletzt war er Generalkonsul im Auswärtigen Amt und trat am 30.6.1968 in den Ruhestand. Hirsch legte das 1. Staatsexamen damals nicht ab, sondern promovierte nur mit der Note ausreichend (rite).

9 Heinrich Rommen (1897-1967), katholischer Naturrechtler, emigrierte in die USA und wurde Prof. an der Georgetown University.

10 Waldemar Gurian (1902-1954), Publizist, emigrierte 1937 in die USA und lehrte an der Notre Dame-University.

11 Paul Adams (1894-1961) war ein promovierter Germanist und wechselte 1928 als Journalist nach Berlin zur Zeitschrift „Germania“. Der jüngere Bruder Alfons Adams (1899-1973) promovierte 1923 in Münster mit einer Arbeit über Bonald und 1928 dann in Bonn in der Rechtswissenschaft mit einer Arbeit über „Die Lehre von Verbrechen und Strafe im System Adolf Merkels“.

12 Carl Schmitt, Verfassungslehre, München und Leipzig 1928.

13 Ernst Friesenhahn (1901-1984), später Prof. in Bonn, Bundesverfassungsrichter.

14 Albert Hensel (1895-1933), Prof. für Steuerrecht in Bonn und Königsberg.

15 Wilhelm Daniels, Der „historische Begriff“ der bürgerlichen Rechtsstreitigkeit in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, Diss. Bonn 1928, Note: ausreichend, Gutachten vom 10. Januar datiert.

16 Gutachten für Hirsch am 18.2.1928, für Weber, Wilckens, Kirchheimer am 19.2.1928 und für Iserloh am 21.2.1928.

17 Damalige Geliebte.

18 Publikationsfassung: Parlamentarische Inkompabilitäten, in: AöR 58 (1930), 181ff.

19 Ähnliches war Karl Marx’ Dissertation wohl nicht beschieden. Marx war wohl strategisch bewusst von Berlin nach Jena ausgewichen, um unproblematisch promoviert zu werden. Dazu demnächst die archivarische Rekonstruktion von Junji Kanda in: Klaus-Michael Kodalle und Tilman Reitz (Hg.), Bruno Bauer (1809-1882), Würzburg 2010.

20 Rudolf Iserloh, geb. 1904, ab 1921 Studium, ab 1925 in Bonn, 1926 1. Staatsexamen, danach Referendariat, Dissertationsthema: Die Kontrolle des Völkerbundes über die B-Mandate, Diss. Bonn 1929.

21 Johann Heinrich Wilckens (1903-?), Sohn des Bonner Prof. für Geologie Otto Rudolph Wilckens (1876-1943), ab 1921 Studium in Freiburg und Bonn, 1924 1. Staatsexamen, danach Referendariat, längerer Aufenthalt in Genf.

22 Carl Georg Hirsch, Die rechtliche Stellung des internationalen Beamten unter besonderer Berücksichtigung der Funktionäre des Völkerbunds-Sekretariats in Genf, Diss. Bonn 1928.

23 Heinrich Göppert (1867-1937), enger Kollege im Wirtschaftsrecht.

24 Archiv der Juristischen Fakultät der Universität Bonn, Promotionen 1927/28, Nr. 500-524, hier: Prüfungsakte Nr. 521/28 Otto Kirchheimer.

25 Werner Becker, Die politische Systematik der Staatslehre des Thomas Hobbes, Köln 1928.

26 Heinrich Lenz, Autorität und Demokratie in der Staatslehre des Hans Kelsen, Diss. Bonn 1926.

27 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München 1922.

28 Alexander Graf zu Dohna (1876-1944), Strafrechtler, Prof. in Königsberg (1909), Dorpat (1918), Heidelberg (1920) und Bonn (1926).

29 Dazu vgl. Hans-Heinrich Jeschek, Die juristische Ausbildung in Preußen und im Reich. Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1939.

30 Karl Vorländer (1860-1926), Neukantianer, Kantbiograph, ethischer Sozialist; Vorländer war damals in Münster „beauftragter Dozent für Moral-, Staats- und Gesellschaftsphilosophie“. Im betreffenden Sommersemester 1924 las er über die Geschichte der praktischen Philosophie von Fichte bis Nietzsche und veranstaltete einen Lektürekurs über Nietzsches „Zarathustra“. Im Wintersemester 1924/25 setzte er den Lektürekurs fort und las über die neuzeitliche Staats- und Gesellschaftstheorie von Machiavelli bis Lenin. Daraus ging hervor: Karl Vorländer, Von Machiavelli bis Lenin. Neuzeitliche Staats- und Gesellschaftstheorien, Leipzig 1926. Bei Vorländer könnte Kirchheimer also auf Lenin und den Bolschewismus gestoßen sein. Vielleicht kannte er den populären Kantianer aber auch bereits aus Veröffentlichungen. Jedenfalls ist die Hervorhebung des „beauftragten Dozenten“ für das erste Studiensemester ungewöhnlich.

31 Friedrich Münzer (1868-1942), Ordinarius für alte Geschichte von 1921 bis 1935, Dekan; Münzer war ein konservativer Protestant jüdischer Herkunft; im Sommersemester 1924 las er eine „Einleitung in das Studium der alten Geschichte“, die Kirchheimer vermutlich besucht hat. Daneben gab er Veranstaltungen zum „Zug des Xerxes“ und zur Quellenlektüre. Vgl. Alfred Kneppe, Friedrich Münzer. Ein Althistoriker zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Bonn 1983.

32 Max Scheler (1874-1928), 1899 Habilitation in Jena, 1906 Wechsel nach München, später Göttingen, seit 1920/21 Prof. für Philosophie und Soziologie in Köln; Scheler veranstaltete im WS 1924/25 eine Vorlesung „Einleitung in die Philosophie“, eine Vorlesung über „Grundprobleme der Ethik“ sowie ein philosophisches Seminar zur Leib-Seele-Problematik. Im SS 1925, Kirchheimers letztem Kölner Semester, veranstaltete er eine Vorlesung „Grundzüge der philosophischen Anthropologie“, eine Übung zur Entwicklungspsychologie und eine Übung „über Ursprung und Entwicklungsformen des Staates“. Letztere Übung fand im Soziologischen Seminar statt. Da alle anderen Veranstaltungen im engeren Sinne philosophisch sind, wird Kirchheimer die staatstheoretische Übung sicher besucht haben. In der Kölner Soziologie lehrten damals u.a. Leopold von Wiese, Paul Honigsheim und Benedikt Schmittmann.

33 Eduard Kohlrausch (1874-1948), bedeutender Strafrechtler, seit 1904 Prof., ab 1919 Nachfolger von Franz von Liszt in Berlin.

34 Heinrich Triepel (1868-1946), bedeutender Staats- und Völkerrechtler, seit 1900 Prof., seit 1913 in Berlin.

35 Rudolf Smend (1882-1975), seit 1909 Prof., seit 1915 in Bonn und ab 1922 in Berlin. Schmitt wurde in Bonn Smends Nachfolger.

36 Dr. Lothar Voltz betrieb von 1895 bis 1940 das „Pädagogium Neuenheim-Heidelberg“ mit realem-, progymnasialen und realgymnasialen Zug (dazu vgl. Maria Müssig, Heidelbergs höheres Schulwesen in freier Trägerschaft, Diss. Heidelberg 2007, 56).

37 Es ist eine bloße Vermutung, dass der erwähnte Wechsel von Heilbronn nach Heidelberg mit dem Tod der Eltern oder eines Elternteils in Verbindung stehen könnte, so dass Kirchheimer schon sehr früh seine Eltern verlor.

38 Freundliche Auskunft des Städtischen Gymnasiums Ettenheim (Schreiben vom 8.12.2009).

39 Rudolf Smends Nachlass im Göttinger Universitätsarchiv enthält auch 23 Briefe Kirchheimers.

40 Der Wechsel nach Nürnberg und Erlangen könnte mit dem in Schulunterlagen erwähnten Vormund Ludwig Rosenthal, Nürnberg, im Zusammenhang stehen.

41 Otto Kirchheimer, Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus, in: Zeitschrift für Politik 17 (1928), 593-611; Wiederabdruck in ders., Von der Weimarer Republik zum Faschismus: Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung, hrsg. Von Wolfgang Luthardt, Frankfurt/M. 1976, 32-52; Kirchheimers Druckfassung wird hier nach diesem Wiederabdruck zitiert.

42 Der verbreitete Wiederabdruck des zusammenfassenden Aufsatzes weist allerdings korrekt auf die Differenz von Abgabe- und Publikationsfassung hin.

43 Carl Schmitt, Die Diktatur, 1921, 2. Aufl. München und Leipzig 1927; Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1923, 2. Aufl. München und Leipzig 1926; Die Kernfrage des Völkerbundes, Berlin 1926.

44 Zu nennen sind hier vor allem: Bernhard Braubach, Hermann Reiners und Emil Gerber; andere Schüler und Promovenden arbeiten mehr aus dem Gedankenkreis der Politischen Theologie (Waldemar Gurian, Werner Becker, Ernst Forsthoff, Heinrich Lenz) und der Diktatur des Reichspräsidenten (Fritz Wiese) oder des Völkerrechts (Felix Schneider, Carl Georg Hirsch, Johann Heinrich Wilckens). Einige Arbeiten widmen sich auch staatskirchenrechtlichen Fragen, die Schmitt selbst mied (Joseph Schlosser, Ernst Rudolf Huber).

45 Otto Kirchheimer, Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus, 41.

46 Otto Kirchheimer, Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus, 51f.

47 Otto Kirchheimer, Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus, 51.

48 Otto Kirchheimer, Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus, 38, vgl. 41.

49 Carl Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, 1929, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, 99.

50 Grundrechte und Grundpflichten, 1932, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 192 Fn. 24.

51 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München und Leipzig 1926, 88.

52 Ebd., 89; vgl. ders., Eine französische Kritik der Zeit, in: Wirtschaftsdienst 11 (1926), 593-594 vom 7. Mai 1926.




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Diese Seite ist vom 4. Januar 2010