Zitiervorschlag / Citation:

Alois Riklin,

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Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung.


Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006. 456 S., € 49,90, ISBN 978-3-534-18774-4

 

Rezensiert von: Marcel Senn (Zürich)

I. Riklin präsentiert in seinem Buch die Idee und Geschichte der Mischverfassung. Entsprechend hat es zwei Hauptteile: Die zu aktualisierende Idee der Mischverfassung – im Folgenden: MV –, die systematisch entwickelt wird (Kapitel 1, 15–18), sowie die Geschichte ihrer Rezeption (Kapitel 2–14). Die MV sei, so Riklins Botschaft, eine der wohltätigen Erfindungen der politischen Geschichte, die es unbedingt wieder zu beleben gelte.

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Doch, was ist überhaupt eine Mischverfassung? Wer sich heute in einem Lexikon, einer Allgemeinen Staatslehre oder Politischen Geschichte kundig machen will, wird kaum fündig. Der Begriff der MV bildet in der heutigen Grundlagenliteratur kein Thema. Man muss hierfür schon Spezialliteratur ausfindig machen, die der Autor auf S. 401 exemplarisch erwähnt. Auf einen Nenner gebracht kombiniert die MV monokratische, aristokratische und demokratische Organisationselemente eines Staates miteinander.

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Riklin greift zur systematischen Entfaltung der Idee der MV eine These von Dolf Sternberger aus dem Jahre 1984 auf, wonach die MV die Realität innerstaatlicher und gesellschaftlicher Machtverhältnisse weitaus angemessener wiedergebe als die dogmatische Fiktion einer reinen Staatsform (401 ff.). Bereits ein kritischer Blick auf die Demokratie der Gegenwart verrate nämlich, um mit Max Imboden zu reden, dass zwar alle Gewalt vom Volke ausgehe, doch dies sei auch nur einmal alle vier Jahre der Fall, während die Macht von Behörden und Verbänden zwischenzeitlich verwaltet und gestaltet werde. Darin widerspiegele sich eine reale Form von MV, die aristokratische und demokratische Elemente miteinander kombiniere.

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Die Machtteilung wirke gesellschaftspolitisch strukturell und grenze sich dadurch von der rechtsstaatlich funktionellen Gewaltentrennung ab. Sie könne nach sozialen (ständischen) oder sachlichen Präferenzen gebildet werden. Die Gewaltentrennung dagegen verteile die Staatsmacht funktionell auf verschiedene Machträger (22, 406). Strukturelle wie funktionelle Machtteilungen blieben idealtypische Konstruktionen und seien keineswegs schon staatspolitische Realitäten.

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II. 1. Diese kritische Sicht ermöglicht es dem Autor, die Geschichte der politischen Gestaltung der Staatsform entsprechend neu, d.h. unter dem Aspekt der MV zu lesen. Mischverfassungen hat es demnach immer wieder gegeben. Der hauptsächlichste Unterschied der modernen zur antiken Form der MV bestehe in der Verstärkung von urnendemokratischen Elementen; das Volk nehme Wahlrechte wahr und zum Teil treffe es, wie dies in der Schweiz der Fall sei, auch häufig grundlegende Sachentscheidungen. In diesem Modell vereinten sich aristokratische mit demokratischen Elementen. Die Schweiz beruhe damit auf der antiken, auf Aristoteles zurückgehenden, klassischen Form der MV, während die übrigen Demokratien der Gegenwart meist stark monokratisch ausg erich tet seien, wie dies in der amerikanischen, französischen oder deutschen Präsidial- bzw. Kanzler-Demokratie zum Ausdruck gelange.

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Riklin führt nun mit einer unambitioniert klaren und allgemein verständlichen Sprache sowie unterstützt durch einige sinnvoll eingesetzte Schemen in gekonnt sicherem Duktus durch die Geschichte der MV. Er richtet sich dabei offensichtlich nicht nur an das fachwissenschaftliche sondern auch an ein allgemein politisch und historisch interessiertes Publikum.

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Die Geschichte der MV beginnt mit den konkreten Verfassungen von Sparta unter Lykurg und von Athen unter Solon im 7. bzw. 6. Jahrhundert vor Christus. Die MV wurde zwar schon von den Zeitgenossen diskutiert, doch erst Platon habe – enttäuscht durch Erfahrungen mit der politischen Realität – seine idealtypische Staatsauffassung, die er noch in der Politeia vertrat, im vierten Buch der Nomoi dahingehend revidiert, dass er dem Gesetzesstaat eine MV zugrunde legte (47f.). Sein Schüler Aristoteles habe dann diese Idee übernommen und sie durch eine breit abgestützte Verfassungsvergleichung wissenschaftlich begründet. Daraus entwickelte Aristoteles in seiner Politica eine weitaus komplexere Staatsformenlehre, als es sie bis anhin gegeben hatte. Da er die soziale Dichotomie von wenigen Reichen und vielen Armen überwinden wollte, kombinierte er die arithmetische mit der proportional qualitativen Gleichheit auf der Grundlage einer oligarchisch-demokratischen MV (57ff.). Riklin macht dabei allerdings auch auf zahlreiche implizite Interpretationsprobleme betreffend die Werke beider Autoren aufmerksam, woraus sich immer wieder Fehlinterpretationen ergeben hätten.

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Eine erste Rezeption dieser Ideen erfolgte unter Polybios und Cicero zur Zeit der römischen Republik. Das römische Kaiserreich im Westen und im Osten verdrängte die Idee der MV zugunsten der Vorstellung eines gottähnlichen Einzelherrschers. Mit Recht – wenn auch nur in drei Sätzen – erinnert der Autor nun daran, dass die Leges (Stammesrechte) der Germanen, einschliesslich die Kapitularien als Verwaltungsanordnungen, die Idee der MV fortgesetzt hätten (93). Hier wird es sich in der Tat lohnen, die rechtshistorische Untersuchung der Stammesrechte aus dieser intelligenten Perspektive neu anzugehen, statt die Leges aus dem engen Blickwinkel einer nimmermüden Germanistik des späten 19. Jahrhunderts mit ihrem sozialwissenschaftlich verzogenen Verständnis von Archaismus zu strapazieren.

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Eine weitere Rezeption erfährt die MV dann erst wieder unter Thomas von Aquin gestützt auf die Rezeption aristotelischer Schriften im 12. Jahrhundert. Riklin reklamiert die eigenständige Position von Thomas als Staatstheoretiker, die in der Literatur bislang zu wenig erkannt worden sei. Thomas sei gerade kein Konformist gewesen, der die Monarchie – die ohnehin als Wahlmonarchie starke oligarchische Züge aufwies – mit demokratischen Elementen wie insbesondere die Abwahl eines Herrschers bereicherte (102ff.). Die Originalität von Thomas liege gerade in seiner Fähigkeit zur intellektuellen Synthese von Aussagen aus der antiken Philosophie, der Bibel und der christlichen Patristik. Damit habe er im Unterschied zum Vorbild von Aristoteles, der Klassengegensätze ausgleichen wollte, die MV auf die fürs Mittelalter typische Konsolidierung von Frieden und zur Realisierung des Gemeinwohls verwendet (108).

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Einen dritten Rezeptionsbereich stellen die Republiken von Venedig und Florenz dar, die Riklin (zusammen mit Daniel Höchli etwa) bereits andernorts vorgestellt hat.1

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2. Der dritte Teil des Werkes von Riklin ist mit „Siegeszug der MV“ überschrieben und handelt u.a. von Harrington und Montesquieu in Verbindung zu England, von Burlamaqui zu Genf, von Adams zu den USA und von Sieyes zu Frankreich. Montesquieu nimmt darin wegen seiner Wirkungsgeschichte eine vorrangige Stellung ein. Doch nicht zuletzt durch die früheren Veröffentlichungen Riklins sind diese Aspekte erörtert und somit ebenfalls bekannt (449f.). Unter verfassungsgeschichtlichem Blickwinkel muss hingegen die Thematik der MV mit Bezug auf das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ besonders interessieren. Hier sind mehrere Theoretiker zu erwähnen, die in der handelsüblichen Verfassungsgeschichte Deutschlands bestenfalls marginal Beachtung finden2, nämlich Arnisaeus und Limnaeus.

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Leibniz und Thomasius hielten den Arzt Henning Arnisaeus, der seine Werke zwischen 1605 und 1615 publizierte, für einen der bedeutendsten politischen Denker seit der Antike. Er modifizierte Bodins Souveränitätslehre so, dass die Souveränitätsrechte auf alle staatlichen Machtträger zu verteilen sind und die MV folglich stets auch eine Gewaltenteilung fordere, weshalb der konstitutionelle Staat unabdingbar wurde (189f.). Diese Idee übernahm Johannes Limnaeus, einer der bedeutendsten Autoren der Reichspublizistik, der seine Werke zeitlich parallel zu Hobbes publizierte. Er geisselte seine Kollegen der Juristenzunft, die sich vor allem mit römischem Recht befassten und das Staatsrecht an den Universitäten, falls überhaupt, nur pragmatisch abhandelten, deswegen als reinrassige Esel und Zahntechniker. Bissiger Spott traf indes auch ihn selber eine Generation später, als Pufendorf das Werk von Limnaeus nicht weniger respektlos als ein langweiliges und albernes Pamphlet bezeichnete, um das man sich einen Dreck zu kümmern brauche. Beide Rechtslehrer urteilten in Sachen Verfassungsrecht aber vergleichbar, vor allem betonten Beide die Bedeutung von Verfassungswirklichkeit und Verfassungsgeschichte für das Verständnis des aktuellen Verfassungsrechts. Auch stimmten sie in der Auffassung bezüglich der horizontalen Machtteilung zwischen Kaiser, Kurfürsten und den übrigen Reichständen weitgehend überein (206 ff.) und Beide beurteilten das Reich als eine Mischform. Doch während Pufendorf das Reich unter diesem Gesichtspunkt gerade für ein irreguläres Monstrum hielt, formulierte Limnaeus eine Ansicht der Reichspraxis nach den Aspekten der Gewaltenteilung und des Republikanismus und arbeitete damit den gemischten Verfassungstypus mit aristokratischem und monarchischem Elementen heraus (219f.). Die Wahrnehmungsdifferenz zwischen Pufendorf und Limnaeus ergab sich aus deren unterschiedlicher Beantwortung der Frage nach der Teilbarkeit der Souveränität: Während Limnaeus (und viele andere auch, die den alten Standpunkt vertraten) die Souveränität als durchaus teilbar anschauten, war sie für Pufendorf gerade unteilbar; darin erweis sich letzterer in der Folge auch als der „Moderne“. Das Dogma der ungeteilten Souveränität wurde massgeblich von Bodin und Hobbes geschaffen und durch Rousseau sowie den amerikanischen Verfassungsrechtlern Paine und Madison verdichtet (371ff.) und den Folgejahrhunderten übermittelt.

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3. Damit erweist sich der Standpunkt betreffend die Unteilbarkeit der Souveränität als der doktrinäre Schrittmacher in die Moderne, denn die Gegner der MV standen allesamt auf diesem Standpunkt. Die Lehre von der unteilbaren Souveränität bildet sowohl das Rückgrat der absolutistischen Staatslehre der frühen Neuzeit als auch der nationalistischen Staatsauffassung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Mit dem Begriff der unteilbaren Souveränität wurde jedoch zugleich ein nachhaltiges Problem in das moderne Völkerrecht eingeführt, weil die Durchsetzung und Verteidigung der Souveränität im Zuge der Rezeption sozialdarwinistischer Vorstellungen betreffend den „Kampf ums Recht“ (Jhering 1872) zur „moralischen“ Pflicht um jeden Preis bzw. aus Prinzip eines Staates wurde.

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III. Mit der realpolitischen Durchsetzung der rechtsstaatlichen Demokratie im 19. und 20. Jahrhundert, wie sie der Idee der Französischen Revolution entsprang, wurde indes nicht nur eine Zäsur zum absolutistischen Staatswesen der frühen Neuzeit sondern auch eine gegenüber der Rezeption der MV gesetzt. Die reine Form des territorialen Machtstaats sollte nunmehr dominieren. Der damit verbundene politikwissenschaftliche Paradigmawechsel umfasste nach Riklin zwei Aspekte: Einerseits war die Mischverfassung bis ins 17. Jahrhundert neben dem Aspekt der Gesetzesherrschaft das Hauptkriterium für den guten Staat, wogegen heute die rechtsstaatliche Demokratie diese Voraussetzung erfüllt. Andererseits war die MV seinerzeit pluralistisch legitimiert, während die demokratische Legitimation diese Funktion heute übernehme (399f.). Dennoch bleibe, so ist Riklin überzeugt, die Idee der MV relevant. Denn deren Realität sei vielmehr ein Problem der korrekten Wahrnehmung: Was sich nämlich heute unter dem Begriff der rechtsstaatlichen Demokratie präsentiere, sei in der Grundstruktur durchaus eine MV (403). Die ungemischte Demokratie gebe es nirgendwo und die Gewaltenteilung sei auch immer notwendig eine Form der Mischung der Machtteilung (423).

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Riklin ortet allerdings auch reale Defizite, die sich aus dem konstitutionellen Mischcharakter eines Staatswesens ergeben: Da gebe es eine plutokratische Tendenz, die aus der Verfilzung von Politik und Wirtschaft resultiere, wofür die erfolgreiche Wahl zum Präsidenten der USA das beredtes Beispiel sei. Dann bestehe gerade im Vergleich mit den Machtkooperationen im Alten Reich eine unausgewogene Machtteilung zwischen den innenpolitischen Kräften in der Aussenpolitik der heutigen Saaten, was sich insbesondere bei der Frage der Kriegsentscheidung äussere, die regelmässig in den Händen einer präsidial geführten Exekutive liege. Schliesslich nehme die Tendenz zum Überwachungsstaat durch die moderne Technologie zu und begründe eine unsichtbare Macht, die real grösser als diejenige eines Despoten in der Antike sei, und letztlich stellt Riklin auch Erscheinungen der Dekadenz durch die Boulvardisierung und den Populismus sowie den Verlust jeglichen Anstands und des Augenmasses in der Politik fest. Es liesse sich hier freilich auch zurückfragen, ob denn die beiden letztgenannten Tendenzen wirklich Folgen aus der MV und nicht vielmehr Erscheinungen aus den veränderten technischen und sozialen Rahmenbedingungen sind. Dennoch überwögen die Vorteile, meint Riklin. Die machtteilige Mischverfassung sei jedenfalls deshalb sinnvoll, weil sie falsche Vorstellungen durch realistische Analyse ersetze, Machtmissbräuche verhindere oder diese wenigstens behindern könne, individuelle Freiheiten vermehrt sichern helfe und weil sie einen Wettbewerb der verschiedenen sozialen Gruppierungen um einen Anteil an der Staatsmacht und damit den Pluralismus der Machtteilung sichere. Die MV gehöre daher zu den wichtigsten Errungenschaften der westlichen Zivilisation neben den Institutionen von Verfassung und Gesetz, Grund- und Minderheitsrechten sowie allgemeinem Wahlrecht und der Solidarität mit den Schwachen.

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IV. Wenn ich mich ausschliesslich positiv über dieses Buch äussere, so geschieht dies ausdrücklich aus Respekt vor der grossartigen Werkleistung des emeritierten Politikwissenschaftlers und ehemaligen Rektors der Universität St. Gallen, Alois Riklin. Sein Buch ist eine echte Bereicherung unseres intellektuellen Denkens. Es hat seine Gestalt und seinen Reichtum aus einer lebenslangen und intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema gewonnen. Es rückt die verzerrte Wahrnehmung vieler politischer Phänomene zurecht, indem es die bisher allzu geradlinige ideengeschichtliche Perspektive zur Macht- und Gewalttheorie, die von Bodin über Hobbes ins 19. Jahrhundert tradiert und verfestigt wurde, durch den Facetten- und Ideenreichtum der historisch vielfältig ausdifferenzierten Idee der MV ablöst und neu ordnet. Denn das Denken in den Kategorien von Souveränität und Machtkonzept gemäss den rigiden Urvätern Bodin und Hobbes ist im akademischen Betrieb immer noch übermässig stark präsent.3 Zum Beweis führe man sich einige der verbreiteten Lehrbücher zu Gemüte. Die Rezeption der Idee der MV könnte jedoch zum Bruch mit einer ganzen Traditionskette führen. Auch dies wäre freilich ein Aspekt einer nunmehr wissenschaftlichen Machtteilung, nicht zuletzt auch deswegen, weil die interessierten Laien hier verständlich angesprochen sind. In dem Sinn ist Riklins Wissensteilung ein Machtgewinn für alle Leserinnen und Leser dieses Werkes.

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Fußnoten:

1 Vgl. u.a. Donato Gianotti, Die Republik Florenz (1534), hg. v. Alois Riklin und Daniel Höchli, München 1997; Daniel Höchli, Der Florentiner Republikanismus, Verfassungswirklichkeit und Verfassungsdenken zur Zeit der Renaissance, Bern 2005.

2 Die MV stellt in der Deutschen Verfassungsgeschichte allerdings kaum ein Thema dar, vgl. s tatt vieler: Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, München, 4. Auflage 2001, § 22. Immerhin hat Michael Stolleis die Thematik in: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I, 1600 – 1800, München 1988, S. 220-224, 234f. ohne Wirkung freilich aufgegriffen.

3 Vgl. dazu: Marcel Senn/Guido Mühlemann , Individuum und Verband zwischen Macht- und Gemeinschaftskonzept, in: Festgabe zum Juristentag 2006, hg. v. R. Zäch u.a., Zürich 2006, S. 19-34.

 

 

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Diese Seite ist vom 15. Februar 2007